Der Text des „Ursprungs der Stadt Mainz“ ist in leichter Fassungsvariation auch außerhalb der Windeck-Abschriften überliefert. Zu nennen ist hier insbesondere eine Sammelhandschrift des frühen 16. Jahrhunderts von dem Benediktiner Christian Gheverdis 11, in der die Mainzer Ursprungsgeschichte noch etwas detailfreudiger erzählt ist („Gheverdis-Fassung“) als bei Windeck („Windeck-Fassung“) 12. Bekannt war die Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ zu dieser Zeit aber namentlich auch dem benediktinischen Humanisten Hermannus Piscator aus dem Kloster St. Jakob bei Mainz, der sie ins Lateinische übertrug, mit seinem Korrespondenten Petrus Sorbillo aus dem Kloster Johannisberg im Rheingau diskutierte und mit älteren Mainzer Ursprungserzählungen verglich 13, was im 17. Jahrhundert partiell in der vielrezipierten Geschichte des Mainzer Erzstifts von Nicolaus Serarius aufgegriffen wurde und zur Bewahrung der mittelalterlichen Überlieferung beitrug 14.
Die Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ bildet daher einen prädestinierten Ausgangspunkt, um von da aus, sukzessive ins Hochmittelalter zurückgehend, anschließend auch ältere Stadtgründungserzählungen von Mainz zu betrachten, wodurch die ältesten vorgeblichen Gründungs‚daten‘ der Stadt zuerst in den Blick rücken. 15Teilweise knüpfen die älteren Erzähltraditionen ebenfalls, aber in anderer Weise als der „Ursprung der Stadt Mainz“, an die Trierer Herkunftssage an, teils arbeiten sie aber auch mit ganz anderen aitiologischen Erklärungsmustern. So kann sich die Frage nach der Herkunft von Mainz mit der Suche nach dem Ursprung uralter Monumente verbinden wie namentlich des „Eichel-“ oder „Drusussteins“ im heutigen Gebiet der Mainzer „Zitadelle“. 16Im Verlauf des Mittelalters bildete sich auf diese Weise ein Erzählkomplex über die Anfänge von Mainz heraus, in dem lateinische und volkssprachige Versionen nebeneinander stehen, in denen sich unterschiedliche Wahrnehmungsschemata und Aussageinteressen manifestieren, so dass die dem neuzeitlichen Leser gewohnte Grenze zwischen factum und fictum als verschoben erscheint. 17Das unterschiedliche Erzählinteresse verweist ebenso auf die Trägergruppen wie auf den jeweiligen situativen Kontext, aus dem die einzelnen Versionen hervorgingen, was deutlich wird, wenn die Texte im Folgenden, ausgehend vom „Ursprung der Stadt Mainz“, näher analysiert werden und nach ihren Funktionen gefragt wird. 18
II. Gelehrte meister aus Trier in Europas Frühzeit: der volkssprachige „Ursprung der Stadt Mainz“ aus dem 14. /15 .Jahrhundert
Die eingangs zitierte, volkssprachige Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ setzt mit den Anfängen von Trier gemäß der seit dem Hochmittelalter verbreiteten Sage ein, mit der anschließend die Gründungsgeschichte von Mainz verbunden wird. Demzufolge lebte in Asien ein Königssohn namens Treverus oder Trebeta 19, der in der Windeck-Fassung als Sohn des Königs Belus (Pilis) 20eingeführt wird, in der Gheverdis-Fassung dagegen in Übereinstimmung mit der vorherrschenden mittelalterlichen Überlieferung als Sohn des Königs Ninus in Babylon und damit implizit als Belus’ Enkel 21. Eines Tages verkündete Treverus, er wolle zur See fahren, um zu sehen, was über mer were . Er gelangte nach Europa und kam dort schließlich an jenen Ort, an dem in der mittelalterlichen Gegenwart Trier lag. Dort gefiel es ihm so gut, dass er Trier gründete und damit, wie hervorgehoben wird, die erste Stadt in Europa nach der Sintflut, die seinen Namen tragen sollte (lat. Treveris ).
Treverus war demnach der erste König in Europa, der betontermaßen lange vor der Gründung Roms lebte. In der Gheverdis-Fassung wird deshalb zur Beglaubigung eigens auf das bůch von den tryrschen geschichten 22verwiesen. Gemeint ist der bis in das 11. Jahrhundert zurückzuverfolgende, bekannte Überlieferungskomplex der „Gesta Treverorum“ 23, der mit der Gründerfigur des Trebeta den „während des späteren Mittelalters wohl bedeutendste[n] heros eponymos im Gebiet nördlich der Alpen“ 24hervorbrachte. Dementsprechend groß war die Ausstrahlung, die die Herkunftssage von Trier auf andere mittelalterliche Städte hatte, die an sie anknüpften: Trebeta stammt aus Babylon, dem Prototyp der von profanem Machtwillen geprägten, hybriden Stadt; als Sohn des assyrischen Königs Ninus – mittelalterlicher Geschichtstheologie zufolge dem Begründer der ersten der vier Weltmonarchien vor dem Jüngsten Tag, während dessen Regierungszeit Abraham geboren wurde, – hat der Gründerheros von Trier und erste König in Europa Anteil am providentiellen Gang der Weltgeschichte. Machtgier und Herrschsucht prägen so das pagan-vorzeitliche, ursprüngliche Umfeld Trebetas. Gleichzeitig wird der junge Königssohn durch das für den Trierer Erzählkomplex konstitutive Motiv des Inzestbegehrens seiner Stiefmutter Semiramis, dem Trebeta sich tugendhaft durch die Flucht nach Europa entzieht, von diesem Umfeld abgerückt. Trier erscheint damit bereits in vorchristlicher Zeit als metropolis , und die pagane Frühzeit von Trier steht solchermaßen aus kirchenpolitischer Perspektive programmatisch in Kontrast zu dem glanzvollen Aufstieg des Bischofssitzes in christlicher Zeit.
Im Gefolge der spätmittelalterlichen Auseinandersetzungen zwischen Erzbischof und Bürgerschaft konnten sich die Akzente allerdings verschieben, im Besonderen durch die Betonung der ersten Komponente – der Bedeutung der Stadt als ältester Siedlung Europas. Auf diese Weise ließ sich die „literarische Ausprägung eines missionshagiographischen Topos: ‚metropolis‘ auch in vorchristlicher Zeit“, wie sie in der Sage vom Ursprung von Trier vorliegt, aus dem „zunächst zugeordneten Zusammenhang“ weitgehend lösen. 25Nicht zufällig fehlt daher auch in der spätmittelalterlichen Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ gerade das in dem Trierer Erzählkomplex so wichtige Inzestmotiv. Wie gesehen, bricht Trebeta/Treverus in ihr nicht als von der Stiefmutter bedrängter Flüchtling – Semiramis wird nicht genannt – zu seiner Seefahrt nach Europa auf, sondern aus Wissbegier. Entsprechend wird dem hohen Alter von Trier und in Verbindung damit der zeitlichen und räumlichen Verknüpfung mit Belus, dem sagenhaften Gründer von Babylon, bzw. mit dessen Sohn Ninus besonderes Gewicht beigemessen. Zugleich wird durch die Einfügung genauer Daten der große Abstand zur späteren Gründung von Rom hervorgehoben.
In Ansätzen zeichnet sich hier ein bürgerlich-antiepiskopaler Wahrnehmungshorizont ab. In den folgenden Abschnitten des „Ursprungs der Stadt Mainz“ wird er noch deutlicher greifbar, wenn sich der Blick von Trier auf die Treverer-Gründung Mainz wendet, die in das Zentrum rückt: 560 Jahre nach der Erbauung von Trier hätten 12 meister , laut Windeck-Fassung darunter vier Rechtsgelehrte, jene Stadt errichtet, die nů Menz heiße. In der Gheverdis-Fassung erfährt man dagegen in einer Variante, dass man diese zwölf Gelehrten, die aus Trier stammten, damals Magos genannt habe, dan sie waren grosz Astronomj vnd auch magici, vnd waren jn allen Natu rlichen ku nsten gar wol erfaren; der selbigen iglicher hatte xij andere meyster vnder Jme . 26Und auch der weit über Mainz hinausreichende Ruhm dieser meister oder magi , der prinzipiell in beiden Fassungen erwähnt ist, wird in der Gheverdis-Fassung unterstrichen: Die Gründer von Mainz hätten in der fernen, ursprünglichen Heimat des Königs Trebeta vber mer wie auch andernorts verkůnden lassen: Wer da wolte leren Jn Naturlichen, Jn Astronomia, Auch in magica, der solte sich da hin gen meincz fůgen, da fůnde er sollich lere nach synem beger . 27
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