Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit gehe, das mit „nationalen und globalen Herrschaftsstrukturen“ zusammenhänge – die wiederum beide bedrängen: Deutsche und Migranten. Der Kampf der Kulturen wird also von Politikern herbeiphantasiert, um die eigene Macht auszubauen. 4Der Kampf der Kulturen und Religionen ist ein günstiges Deckmäntelchen, um Stimmungen zu beeinflussen und Stimmen zu fangen – wissend um die hohe Symbol- und Identifikationskraft, die Kultur und Religion haben. Jedoch wird weder das christliche Abendland durch einen Moscheebau in Leipzig bedroht, noch ist das Christentum für weite Teile der Bevölkerung wirklich ein echter Identifikationsfaktor. Drei von vier Ostdeutschen gehören keiner Kirche an. Deshalb erschöpft sich die instrumentalisierende Benutzung des kulturellen Codes „Christentum“ auch in der plakativen Kampfesrede von der Bewahrung des „christlichen Abendlandes“ und im öffentlichen Singen von Weihnachtsliedern.
Insofern gilt es, den Rat Sérgio Costas ernst zu nehmen, sich als demokratische Kräfte nicht in die phantasierten Kulturkämpfe der Rechtspopulisten hineinziehen zu lassen, sondern jeglichen Diskurs über Islambedrohung und Untergang des christlichen Abendlandes auszutrocknen, ins Leere laufen zu lassen. Denn: „Dort, wo es den Rechtspopulisten gelungen ist, ihren Kampf um die Macht als Kampf der Kulturen zu deuten, sind sie nicht mehr zu stoppen.“ 5Die eigentlichen Gründe für die Macht- und Bedeutungslosigkeitsgefühle in der Bevölkerung liegen anderswo. Beispielsweise in den sich ständig verschärfenden Ausgrenzungstendenzen eines neoliberalen Wirtschaftssystems, auf die im Kapitel III.8 näher eingegangen wird.
Strebt man eine Kultur der Anerkennung an, sollte also insbesondere auch die Negativseite der Anerkennung in den Blick genommen werden: die Beschämung oder Entwertung. Denn Scham gilt als ein enorm bedrohliches und unerträgliches Gefühl, das häufig abgewehrt wird durch die Verachtung und Beschämung anderer. 6Der Sozialwissenschaftler Stephan Marks bemerkt, dass viele unserer Beziehungen untergründig mit Beschämungen durchtränkt seien, beispielsweise wenn Arbeitslose als „arbeitsscheue Versager“ entwertet oder Schüler oder Lehrer gedemütigt werden. Das habe eine Beschädigung des Selbstwertgefühls zur Folge, was wiederum die Fähigkeit zur Wertschätzung anderer verringert. Näher liegt dann die Scham-Abwehr über den Weg der Verachtung anderer und ihres Ausschlusses aus der Gemeinschaft – insbesondere derjenigen, die als schwach gelten. „Die Fähigkeit, Anerkennung zu geben (und entgegenzunehmen), wird wesentlich durch Scham und Beschämung blockiert. Daher führt der Weg zur Anerkennung über die Auseinandersetzung mit Scham und Beschämung“, betont Marks. 7Hier wird bereits deutlich, dass es eine Kultur der Anerkennung nicht geben kann ohne die konsequente Vermeidung und Überwindung von Beschämungs- und Entwertungserfahrungen. Und es wird sie nicht geben können ohne die Aufarbeitung der erlittenen Beschämungen.
In der heutigen Situation kommt der religiösen Frage offenbar wieder eine neue Bedeutung zu. Nachdem in der Folge der Aufklärung die Religion in der westlichen Welt jahrhundertelang marginalisiert war, drängt sie sich heute wieder neu auf. Als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zeichnet sich ab, Wege und Formen einer wechselseitigen Anerkennung der verschiedenen Religionen, Kulturen, Denk- und Lebensweisen zu finden, die einander im gleichen Lebenskontext durchaus spannungsreich begegnen können. Dass die verschiedenen Glaubens- und Lebensformen nicht zur wechselseitigen Verfeindung und Entwertung benutzt werden.
Doch gerade diese Verfeindung scheint derzeit in vollem Gange zu sein. Leider hat sich gezeigt, dass die wohlmeinenden Imperative, andere anzuerkennen und aufzunehmen, unter nicht unbeträchtlichen Bevölkerungsteilen weitgehend ungehört verhallen. Es dürfte daher an der Zeit sein, noch eine Ebene tiefer in die Analyse der Situation einzusteigen und das Verwobensein von eigener Anerkennung und Anerkennung anderer wahrzunehmen und an diesen beiden Seiten der einen Medaille zu arbeiten. Es dürfte um einen doppelt verwobenen Vorgang gehen: die Auffindung einer eigenen Identität in Abgrenzung von anderen bei gleichzeitigem Erkennen des eigenen Angewiesenseins auf die Anerkennung anderer. Daraus kann die Einsicht in die Notwendigkeit einer wechselseitigen Anerkennung erwachsen. Der hier vorgestellte Diskurs über die Anerkennung bringt aus allen Perspektiven eine Erkenntnis: Identität ist nicht ohne die Anerkennung anderer zu haben. Alles kommt in der gesunden individuellen wie gesellschaftlichen Entwicklung darauf an, eine reife Form der Beziehungs- und Anerkennungsfähigkeit zu entwickeln. Denn : „Alles, was ist, kann nur in der Koexistenz der Beziehung leben und überleben“, schrieb einmal die Philosophin und Theologin Dorothee Sölle (1929–2003). Sie sieht in diesem Zusammenhang übrigens die Stunde einer weltoffenen Mystik gekommen, die gegen die verschiedenen Totalitarismen dieser Zeit eine aus dem tiefen spirituellen Bewusstsein der Zusammengehörigkeit allen Lebens gewachsene Mentalität des Austauschs, der Beziehung, der Liebe, des Gebens und Nehmens in Anschlag bringt. „Ist es möglich, die Illusionen der Autonomie und der Autarkie und die Praxis der Ausgrenzung durch Liebe zu überwinden?“, fragt sie in ihrem Buch „Mystik und Widerstand“ und antwortet selbst: „Dass wir ohne diesen mystischen Traum keine Chance haben, ist evident genug. Ihn schon jetzt zu leben ist die Hoffnung bewusster Minderheiten.“ 8
Die Religion, verstanden als eine Art mentales und soziales Anerkennungsverhältnis, könnte heute die Kultivierung der notwendigen „Doppel-Helix“ der Anerkennung unterstützen – bestehend aus eigener Anerkennung und der Anerkennung anderer. Nämlich indem die Religion dem Menschen einerseits hilft, einen eigenen Deutungs- und Beziehungsrahmen zu haben, und andererseits ein Bewusstsein stiftet, dass man nicht allein aus sich selbst heraus lebt, sondern aus einem größeren (göttlichen und sozialen) Anerkennungszusammenhang. Freilich – und das wird die vorliegende Untersuchung zeigen – wird es dazu einer reifen Form der Religion bedürfen, die sich weniger über Absolutheitsansprüche als über Anerkennungsverhältnisse zu definieren vermag. Die Reife der Religion bedeutet ebenso wie die Reife des einzelnen Menschen, dass ein gewisses Maß an Reflexions- und Beziehungsfähigkeit erlangt worden ist.
Die Reife einer Religion wird sich daran zeigen, in welchem Maß es ihr gelingt, Anerkennung des Eigenen und Anerkennung des anderen positiv zu befördern. Dass sich die Religion also zu relativieren vermag, ohne dabei das Eigene zu verlieren; dass sie anderes auszuhalten vermag, ohne es vernichten zu wollen, sondern es als einen Ort des fruchtbaren Austauschs versteht. Eine Form der unreifen Religion dagegen verharrt in rigiden Absolutsetzungen, scharfen Abgrenzungen und starrem Dogmatismus und erweist sich als reflexions- und beziehungsunfähig. Eine solche unreife Religion kommt als zu überwindendes Hemmnis einer Kultur der Anerkennung in den Blick.
Wie diese kurze Skizze bereits zeigt, könnte es auf die Beziehungs- und Anerkennungsfähigkeit der Religion heute dringender denn je ankommen. Dabei kann nicht oft genug betont werden, dass die Bereitschaft zur Anerkennung anderer kein fremder Gedanke ist, der an die Religion von außen herangetragen wird. Denn insbesondere die jüdisch-christliche Religion lebt wesentlich aus einem Gottesbild, das von der Beziehung geprägt ist. Sowohl die Schöpfungsvorstellung, in der sich Gott mit der Welt verwebt, als auch die Christusvorstellung, die den Messias und den Menschen in ein inniges Austauschverhältnis setzt, zeugen von dem grundsätzlichen Beziehungscharakter der Religion. Martin Buber konnte sagen: „Im Anfang war die Beziehung.“ Die schon erwähnte Dorothee Sölle hat diesen dichten theologischen Satz Bubers so interpretiert: „Gott ist hier nicht als höchstes Objekt ausgesagt, sondern als die gegenseitige, sinngewisse, handelnd gelebte Beziehung zum Leben. Gott wird nicht gefunden wie ein kostbarer Stein oder die blaue Blume, sondern Gott ereignet sich. Gott geschieht. God happens.“ 9Wird Gott dann auf dem Höhepunkt der neutestamentlichen Theologie sogar als Liebe definiert (1. Johannesbrief, Kapitel 4), dann kann er gar nicht mehr anders, denn als die Kraft der Beziehung gedacht zu werden: Gott buchstabiert sich durch die auf Anerkennung und auf Solidarität beruhenden Beziehungen der Menschen zu ihrer Mitwelt.
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