Und doch gelang es den Prophetenjüngern Friedman, von Hayek, den Chicago Boys und anderen, die Politik davon zu überzeugen, dass niemand anderes als die „unsichtbare Hand des Markt“ am besten wisse, wie Ressourcen weltweit zugeteilt werden sollten – eine Folgerung der Efficient Market Hypothesis . Und so unternahmen es Politiker wie Margaret Thatcher, Ronald Reagan und andere, Regulationen abzubauen und ‚den Märkten‘ bislang ungekannte Freiheiten zu eröffnen.
Nach dem Wegfall staatlicher Regulierungen verloren auch die ‚zunfteigenen‘ Handelsplätze, die Börsen, an Bedeutung. Diese wurden einst gegründet, um dem Handel verlässliche Rahmenbedingungen zu geben und dadurch Kaufen und Verkaufen berechenbar zu machen, indem Käufern und Verkäufern gleicher Wissensstand gesichert und Abläufe transparent gemacht werden sollten. Aber bald entdeckten einige, dass man außerhalb der Börse noch schnellere und riskantere Geschäfte tätigen konnte, die entsprechend höhere Gewinne versprachen. Dieser außerbörsliche ‚Telefonhandel‘ (alias Over-the-counter - oder OTC-Handel ) ist möglich für jeden, der per Internet und Telefon Zugang zu elektronischen Handelsplattformen ( multilateral trade facilities ) hat. So entstand der „Schattenbankensektor“, in dem Hedgefonds, Investmentfonds, Private-Equity -Firmen, private Geldverleiher und ähnliche ihre Anlagen tätigen.
Der Siegeszug von Computern brachte den nächsten Quantensprung: Es entstand der computerbasierte Hochfrequenzhandel, das sogenannte Algo-Trading . Der Name kommt von den Algorithmen, mit denen Händler die Kauf- und Verkaufsentscheidungen von Computern programmieren und wodurch Handelsbewegungen mit großem Volumen und hoher Geschwindigkeit durch miteinander kommunizierende Computer getätigt werden.
Aber noch mehr wurde getan, um Profite zu erzielen. Findige Experten entwickelten ein „innovatives Finanzprodukt“ nach dem anderen, was zur Folge hat, dass der Finanzsektor sich zunehmend zu einer eigenen Verdienstquelle entwickelt. Das begann mit etwas, das anfänglich sinnvoll war, etwa ein Future zur Absicherung von Wechselkursschwankungen im Terminhandel. Dieses Future wurde nun wiederum beliehen, verkauft und gekauft oder versichert, in abgeleitete (von lateinisch „derivare“) und „komplex strukturierte Produkte“ verpackt, die wiederum gekauft, verkauft oder versichert werden können usw. Schlussendlich wurden diese Produkte derart komplex, dass weder die Emittenten noch die Händler noch die Käufer den Überblick bewahrten, was sie nun eigentlich kauften und wer wem etwas schuldete.
Der schwer kontrollierbare Schattenbankensektor wuchs und wächst rapide, auch heute noch, denn: Je stärker die Regierungen der Welt versuchen, den Finanzmarkt zu regulieren, desto mehr Handelsaktivitäten werden in diesen intransparenten Markt verlegt, entsprechend steigt sein Umsatzvolumen:
– In den USA werden über den Schattenbankensektor mit 16 Billionen US$ schon jetzt mehr Kredite vergeben als über den regulären Bankensektor (13 Billionen US$),
– Das weltweite Volumen des Schattenbankensektors stieg von 25 Billionen US$ (2002) auf 60 Billionen US$ (2010), 3
– Auch China hat ein Problem mit dem Schattenfinanzsektor und zwielichtigen Kreditgebaren: Hier wird der Sektor auf 400 Milliarden US$ geschätzt – das sind zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Da aber viele Kredite an Kleinunternehmer zu Wucherzinsen gingen, stehen ganze Wirtschaftszweige auf der Kippe. In der Tageszeitung Die Welt war am 14.10.2011 unter der Überschrift „China taumelt dem großen Finanzcrash entgegen“ zu lesen: „Da gleichzeitig auch das offizielle Bankenwesen Chinas in heftigen Turbulenzen steckt, könnte dies in einem Schneeballeffekt zu einer Finanzkrise in dem Land führen, die solche Ausmaße hätte, dass das Griechenland-Problem im Vergleich dazu ein Sonntagsspaziergang gewesen wäre. Die Regierung hat daher in den vergangenen Tagen hektische Maßnahmen ergriffen – ob sie helfen, darf bezweifelt werden.“
Das Geschehen auf den Finanzmärkten löst sich zunehmend von der Realwirtschaft, das heißt dem Bereich der Wirtschaft, wo reale Güter erzeugt und Dienstleistungen erbracht werden. „Das Volumen der Devisentransaktionen (ist inzwischen) fast 70 Mal so hoch wie jenes des gesamten Welthandels mit Gütern und Dienstleistungen. In Deutschland, Großbritannien und den USA ist das Volumen des Aktienhandels annähernd 100 Mal höher als jenes der Unternehmensinvestitionen, und der Handel mit Zinsinstrumenten (Anleihen, Schatzscheine etc.) übersteigt das Volumen der gesamten Realinvestitionen in noch größerem Ausmaß.“ 4Nach einer Studie der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich werden jeden Tag weltweit Devisen und darauf basierende Derivate für 4 Billionen US$ gehandelt, eine Steigerung um 20% von 2007 bis 2010. 5Das Volumen von weltweit gehandelten Derivaten lag am 31.12.2010 bei 601,048 Billionen US$. 6Zum Vergleich: Das Weltsozialprodukt ( gross world product ) 2010 betrug 63,170 Billionen US$. 7
Der Computerhandel mit seinen Entscheidungen im Nanosekundentakt überfordert zunehmend die Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten der menschlichen Akteure in den Handelsplätzen der Welt, etwa, wenn es zum Flash crash kommt: Dazu kommt es, wenn computergesteuerte Kauf- und Verkaufsprogramme Kauf- und Verkaufswellen in Gang setzen können, bevor der Mensch oder die Börsenaufsicht verstehen, was geschieht, und entsprechend eingreifen können. Bekannt war ein Ereignis am 06.05.2010, wo um 14:25 Uhr durch eine Verkaufsorder des Investmentfonds Waddel & Reed Financial innerhalb allerkürzester Zeit der Dow Jones Index um fast 1000 Punkte (das sind neun Prozent!) abstürzte, was erst durch Aussetzung des Handelsgeschehens aufgefangen werden konnte. Solche Situationen belegen zudem, dass an den Börsen keine rationalen Entscheidungen mehr getroffen werden, sondern nach ‚Gefühlslage‘ entschieden wird, vor allem, indem man sich an Trends einfach nur deshalb anhängt, um sie nicht zu verpassen.
Durch Anlageverhalten, Beteiligungen, Kauf und Verkauf von Unternehmensbeteiligungen sind Finanzmarktakteure von einer Größe und Komplexität entstanden, dass sie inzwischen als „SIFIs“ (Systemrelevante Internationale Finanzinstitutionen) bezeichnet werden, bei denen die Gefahr besteht, dass deren Probleme ganze Staaten oder gar Wirtschaftsregionen beeinträchtigen. Einer aktuellen Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich zufolge kontrollieren 147 Finanzkonzerne, das bedeutet 1,7% der multinationalen Unternehmen, über ihre direkten und indirekten Beteiligungen ungefähr 80% der weltweiten Umsätze. Dabei sind bekannte Namen, wie etwa die Nummer 1, die Barclays Bank, aber auch eher unbekannte Namen, wie etwa die Nummer 2, die Capital Group Companies, die Beteiligungen in Höhe von 1 Billion US$ verwaltet. 8Demgegenüber ist der weltweite Reichtum geradezu egalitär verteilt: Hier verteilen sich 80% auf fünf bis zehn Prozent der Besitzenden. Es ist offensichtlich, welche Macht eine derartige Konzentration gegenüber der Politik hat.
Dabei geht es in den Finanzkrisen nicht nur um die weltweite Vernichtung von ‚Vermögen‘ jener, die Geld für Anlagen haben. Es geht auch um reale Jobs und um Lebensmittel.
Mit den Banken geriet die Weltkonjunktur insgesamt ins Schleudern. Import, Export, Investitionen und Konsum gingen zurück, was Arbeitsplätze kostete oder Kurzarbeit und Gehaltseinbußen nach sich zog, was wiederum die Inlandsnachfrage beeinträchtigte, was die Konjunktur und Arbeitsmarktsituation erneut negativ beeinträchtigte usw. Die Weltfinanzkrise vernichtete nach Schätzungen von IWF und ILO 30 000 000 gut bezahlte Arbeitsplätze. Am meisten natürlich dort, wo überhaupt Jobs sind, aber auch dort, wo die Jobsituation ohnehin schon schlecht ist. 9Besonders hart betroffen waren exportorientierte Länder: In Sambia wurde beispielsweise ein Drittel aller Jobs in der Kupferindustrie vernichtet, einem Land ohne Arbeitslosen- und Sozialversicherung, wo jeder Job zwischen 15 und 25 Familienmitglieder ernähren muss. 10Verschärft wird die Situation dort, wo viele Jugendliche heranwachsen und Jobs suchen. Der UNICEF-Jahresbericht 2011 weist darauf hin, dass weltweit 81 000 000 Jugendliche arbeitslos waren, soviel wie noch nie zuvor, dass aber nirgends die Situation so schlimm sei wie in Nordafrika, wo bis zu 25% aller Jugendlichen betroffen sind. 11
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