»Hey«, rief ich zwei Typen zu, die, kurz nachdem ich gestürzt war, mit ihren Bikes an mir vorbeifuhren, »könnt ihr mal bitte ein bisschen an meinem Fuß anziehen? Auf drei!«
Sie blieben stehen und stiegen von ihren Rädern. »Bitte, was sollen wir tun?«
»Kurz an meinem Fuß anziehen. Ich habe mir den Knöchel ein bisschen ausgerenkt. Auf drei! Eins… Zwei…«
Die beiden sahen zuerst einander und dann mich irritiert an.
»Bist du dir sicher? Willst du dir das nicht lieber im Spital anschauen lassen? Wäre vermutlich gescheiter.«
»Nein, geh bitte, das ist keine große Sache. Einfach kurz anziehen. Der ist gleich wieder drin. Also, noch einmal: Auf drei! Eins… Zwei…«
Der eine schaute mich weiterhin verunsichert an, während der andere, etwas mutiger, meinen deformierten Fuß umfasste.
»Drei… Und zieh!«
Er zupfte vorsichtig daran. Es tat sich nichts.
»Mach nochmal. Vielleicht eine Spur engagierter. Ein wenig leidenschaftlicher, bitte!«
Er zog nochmal an meinem Fuß. Eventuell einen Hauch fester. Half nur nichts.
»Nein, lass gut sein. So wird das nichts. Ich fahre runter in die Station, aber danke euch.«
»Kommst du auch wirklich klar?«, fragten sie mich besorgt, mit noch immer sehr beunruhigtem Gesichtsausdruck.
»Ja, ja, sicher. Alles gut«, antwortete ich, winkte ab und deutete ihnen, weiterzufahren, was sie schließlich auch taten. Dann wollte ich aufstehen. Die Betonung liegt auf »wollte«. Ein stechender Schmerz zog sich von den Füßen hinauf bis in sämtliche Spitzen meines Körpers. Halleluja! Hölle, Hölle, Hölle! Ich wusste nicht, dass ein ausgerenkter Knöchel so böse wehtun konnte. Tat er aber.
Im Krankenhaus war ich zunächst trotzdem noch ziemlich zuversichtlich. Die Frau, die vor mir dran war, hatte nämlich auch ein Knöchel-Aua. Als sie aus dem Behandlungsraum kam, verkündete sie erleichtert: »Ist nur ein bisschen gezerrt, alles gut.« Wird bei mir auch so sein, dachte ich mir da noch. Rückblickend vielleicht eine etwas eigenartige Logik, aber hey, ich stand unter Schock.
»Es tut mir leid, Frau Safer, da ist ordentlich was kaputt. Ich fürchte, das müssen wir operieren«, verkündete der Arzt ein paar Minuten später mit mitleidiger Miene und zerstörte mit diesem lapidaren Satz meine ganze Zuversicht. Seine Prognose: Acht bis zehn Wochen Gips. Scherz, oder? Von mir aus Gips. Aber mit Operation? So mit Schrauben und Metallteilen? Und braucht das echt so lange, um zu heilen?
»Da sind nicht einfach nur die Bänder gezerrt?«
Der Arzt schüttelte den Kopf.
»Sicher nicht?«
Der Arzt schüttelte wieder den Kopf. Dieses Mal ein bisschen energischer.
»Auch nicht ausgerenkt?«
»Nein, leider mehrfach gebrochen.« Abermaliges Kopfschütteln, jetzt schon etwas entnervt, nach dem Motto: Was versteht die Gute daran bitte nicht? Aber ich verstand es wirklich nicht. Der Sturz war doch bitte nicht so schlimm, dass ich dessen Nachwehen jetzt bis zu drei Monate spüren sollte!
»Schauen Sie, Sie können sich das so vorstellen, als würden sie mit einem Mörser eine Handvoll Nüsse zerkleinern. So in etwa sieht ihr Knochen momentan aus…«, erklärte der Mediziner weiter.
»Aha«, antwortete ich ihm geistesabwesend und wartete darauf, dass der Arzt seine Diagnose endlich in den Computer tippte. Denn ich hatte einen guten Plan: Sobald er damit beschäftigt war, viele lateinische Fremdwörter in meine Patientenkartei zu klopfen, würde ich die Röntgenbilder mit dem Handy abfotografieren und einem befreundeten Chirurgen schicken. Ich wollte nicht, dass er davon etwas mitbekam, weil ich es als unhöflich empfand, seine Arbeit so offensichtlich anzuzweifeln, auch wenn ich mir sehr, sehr sicher war, dass er sich irrte. Und man weiß ja, wie die meisten Menschen reagieren, wenn man ihre Leistung infrage stellt: selten erfreut.
In einem unbeobachteten Moment drückte ich mehrmals auf den Auslöser und leitete die Schwarz-Weiß-Aufnahme meines Knöchels meinem Arzt-Freund weiter. »Ich brauche bitte dringend deine Einschätzung. Schau dir das kurz an. Habe ich da was?«, schrieb ich zu den Bildern und erwartete mir, dass mir Veith antworten würde, dass wir das auch ohne Operation in den Griff bekommen würden.
»Ja, hast du!!!«, kam zurück. »Was ich so sehen kann, schätze ich, du wirst nicht an einer OP vorbeikommen. Inklusive Liegegips. Könnte ein bisschen dauern.« Frustriert ließ ich das Handy in meine Tasche fallen. Noch im Flug bimmelte es erneut. Ich fischte nach meinem Smartphone. Eine weitere Nachricht von Veith. Ha, doch Entwarnung, wusste ich es doch. Es konnte nicht so schlimm sein.
»Auch wenn es dir nicht passt, Susi, du musst jetzt Geduld haben!!« Verdammt. Das war nicht die Nachricht, auf die ich gehofft hatte. Alle, die mich kennen, werden an dieser Stelle laut auflachen. Denn es gibt da folgendes, klitzekleines Problem: Ich besitze keine Geduld. Nicht einmal ansatzweise. Keinen noch so kleinen Funken.
Ich habe in meinem bisherigen Leben vier Knie-Operationen hinter mich gebracht – und in jedem Fall war ich selbst daran schuld. Es hieß ausruhen, schonen und ich habe mich nicht daran gehalten, weil ich es nicht ausgehalten habe, nichts zu tun. Selbst nach den Eingriffen am Knie habe ich mir, quasi vom OP-Tisch aus, noch ein Taxi bestellt und mich ins Büro fahren lassen, um dort was weiterzubekommen. Fades Herumliegen ist einfach nichts für mich.
Und was machte ich jetzt? Genau das! Ich lag hier in diesem öden Krankenhauszimmer, atmete stinkige Spitalsluft und starrte an die Decke, an der ein altmodischer Blumenluster aus Keramik hing. So einen und noch viele mehr in dem Stil hatten wir im Leuchtengeschäft meiner Familie. Haben mir nie besonders gefallen, aber angeblich verkauft sich der Stil gut. Oh, na, vielleicht sind die ja sogar von uns? Hm, ich schätze, dann muss ich sie jetzt eh gut finden. Und irgendwie passen sie ja zu den hellblonden Wänden und den flaschengrünen Tür- und Fensterrahmen. Pseudo-Biedermeier, eine gut gemeinte Schloss-Schönbrunn-Kopie.
In dem Moment kam mir Lilian Harvey mit ihrer Knöchelgeschichte in den Sinn. Warum eigentlich? Keine Ahnung. Aber fällt einem nicht ausgerechnet unter der Dusche ein, dass man noch dringend Geschirrspülmittel kaufen muss, das man seit zwei Wochen jeden Tag vergisst, endlich den blöden Erlagschein mit der Parkstrafe einzahlen sollte und auch der Friseurbesuch schon längst überfällig ist, geschweige denn der bei der Nagelpflege? Eben.
Ich weiß auch nicht mehr, wo ich die Story überhaupt aufgeschnappt hatte. Wahrscheinlich bei irgendeinem geschäftlichen Abendessen, wo sich einer mit dem Wissen um diese Anekdote rühmen wollte. Ist aber auch eine echt nette Geschichte. Die gebürtige Britin begann ihre Bühnenkarriere als Tänzerin. Mit 17 wurde sie am Wiener Varieté Ronacher engagiert. Eine ziemlich coole Sache für eine aufstrebende Künstlerin.
Noch cooler: Der deutsche Filmproduzent Richard Eichberg saß eines Abends im Publikum und war vom Auftritt der jungen Harvey so begeistert, dass er ihr sofort ein Angebot für seinen nächsten Film machte. Nur sie selbst fand seinen Vorschlag scheinbar nicht besonders prickelnd. Sie sagte ab, weil ihr die Filmbranche zu unsicher vorkam. Das war zu einer Zeit, in der das Theater auch tatsächlich noch einen weitaus besseren und beständigeren Ruf genoss als Kino und Fernsehen.
Ein paar Tage später jedenfalls stürzte sie schwer und brach sich – zack – den Knöchel. Die Ärzte sagten, sie würde so schnell nicht mehr professionell tanzen können. Produzent Eichenberg bekam davon Wind, witterte seine Chance, doch noch mit ihr ins Geschäft zu kommen und schickte ihr erneut einen Vertrag ins Spital. Dieses Mal unterzeichnete sie. Der Rest ist Geschichte: Harvey wurde zu einem der großen Stars der 30er-Jahre in Deutschland und spielte in mehr als 55 Filmen mit. Na ja, wer weiß, was man noch alles an Großartigkeiten erwarten würde. Wenn es bei einer Lilian Harvey klappt, warum nicht auch bei mir.
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