Was stimmt wirklich? Auf den zwei Kilometern bis zum Stephansdom, vor dem ich nun kurz anhalte, habe ich den Bogen meiner Einschätzung, wie COVID-19 zu sehen ist, von einer von Medien und einer Expertenelite getriebenen Massenhysterie, die die Wirtschaft vollkommen unproportional schädigt bis hin zu einer existenziellen Bedrohung, die jede Maßnahme einer Eindämmung verdient, gespannt. Ich bin zwischen Wut über die Aufbauschung, ja Lächerlichkeit und blankem, gefühltem Horror geschwankt. Das liegt ziemlich weit auseinander, würde ich sagen. Ich bin doppelt verwirrt, einerseits von der ungewöhnlichen Stille um mich herum, anderseits vom Sturm in meinem Kopf.
Über die fast ausgestorbene Kärntnerstraße, sonst ein Touristenmagnet durch den man sich durchnavigieren muss, gelange ich geradlinig zur Oper. Als Jugendliche bin ich oft dichtgedrängt mit anderen an der Stehplatzreling gehangen, später dann gemeinsam mit sozialem Aufstieg habe ich weiter vorne auf den Sitzplatzreihen Platz nehmen können. Werden wir alle, die keine privaten Logen finanzieren können, nach COVID-19 Angst vor unseren Nachbarn in der Reihe haben?
Der übergroße pinke Hase der Albertinapassage, der gleich daneben lange Zeit den Weg in dieses noble Untergrundnachtlokal wies, springt mich heute in der Reprise seltsam lächerlich an. Genauso wie die Erinnerung eines einige Zeit zurückliegenden Besuchs eben dort, zu dem ein mir damals sehr aufregend erscheinender Mann mich im Verführungstanz eingeladen hatte. Ein vernebelnder Schaumschläger, dessen wilde Arabesken von einfältiger Bindungsängstlichkeit nun mit neuer Nüchternheit entzaubert vor mir liegen. Die Krise spitzt alles an. Durch die Krise erlangt der Blick lang entbehrte Schärfe. So eine Krise ist nichts für Feiglinge. Sie hat die Macht, das Leben ins Wirkliche zu drehen, zu zeigen, was wichtig ist und was nicht – und wer ein wirkliches Gegenüber ist. Unter der Krise werden die Guten einfach noch besser und die Miesen ihrer Masken entlarvt, auch wenn jetzt alle Schutzmasken tragen sollen.
Plötzlich erkenne ich, dass es egal ist, ob unser Umgang mit COVID-19 auf einer simplen, gut geschürten Massenhysterie fußt oder es sich um die Dimension einer ernsthaften Bedrohung für unsere Menschheit handelt. Sich mit diesem Streit aufzuhalten hieße, sich der Dringlichkeit des tatsächlichen globalen Anliegens nicht zu stellen, denn was wir gerade erleben ist »Wirklichkeit«, erlebte, tägliche Wirklichkeit, ist die den Alltag bestimmende Realität! Diese Realität gilt es vollständig zu akzeptieren, ihre Bedeutung für unsere gesamte weitere Zivilisation zu verstehen. Die Aufgabe ist, die in ihr liegende Botschaft zu entschlüsseln.
Im Jänner 2020 war ich noch auf einem großen Ball in der Wiener Hofburg, auf dem sich Tausende eng durch die Gänge und auf den Tanzflächen drängten. Wir scherzten und kamen einander nahe, und die Nikotinfreaks begegneten einander im wirklich engen Schulterschluss im Raucherzelt. Anfang März flog ich für ein Meeting nach Innsbruck, wie man das eben so macht, und eine kurze Reise zu einem Klienten in Moskau musste ich dann unmittelbar auch noch unterbringen.
Der Flughafen war bereits erfreulich leer, was die Abfertigung angenehm machte, aber noch nicht wirkliche Nachdenklichkeit bei mir lostrat, da unsere Spezies ja gerne an einer einmal gewählten Wirklichkeit festhält. Für April hatte ich mit einem Arbeitspartner eine Reise nach Bangkok geplant, um Berufliches und Interessantes verbinden zu können. Er hatte mir auch einen Besuch bei seinem wirklich exzellenten Schneider um die Ecke angekündigt. Und irgendwann im Juni würde ich dann beginnen, in der Toskana mein übliches Sommerquartier zu beziehen, nachdem ich zuvor im Mai zweimal an den verlängerten Wochenenden überwachen würde, dass alles dort in Schuss gebracht würde.
Das alles wirkt aus heutigem Blickwinkel anachronistisch und das meiste unpassend, ja manchem gegenüber habe ich sogar ein mulmiges, fast ein wenig schuldiges Gefühl.
Jetzt leben wir nahezu von einem Tag auf den anderen in einer ganz anderen Welt. Strikte Ausgangsbeschränkungen werden verhängt, deren Einhaltung in manchen Ländern wie zum Beispiel in Israel mit Methoden, die sonst der Terrorbekämpfung vorbehalten sind, kontrolliert werden. Wer einen Funken Verstand zu haben behauptet, hält plötzlich einen garantierten Mindestabstand von einem Meter, besser zwei, vom nächsten Menschen ein.
Dafür schreiben mir plötzlich zahlreiche Menschen (und nicht alle hätte ich unbedingt vor COVID-19 zu meinen vertrauten Freunden gezählt), dass wir durchhalten müssen, dass wir nur gemeinsam durch die Krise kommen, und in den wenigen Begegnungen mit Passanten beim Ausführen des Hundes, dringender Besorgungen oder um sich den Lagerkoller kurz abzugehen, herrscht eine Stimmung ungewohnter Ansprechbarkeit und amikaler Gemeinsamkeit, obwohl wir Distanz halten.
Die ganze Welt hält sozusagen den Atem an, ganze Volkswirtschaften werden in den Boden gerammt, die Airlines haben ihre gesamte Luftfahrtflotte auf den Boden gebracht, der Individualverkehr ist um achtzig Prozent reduziert. Dinge also, die wir bisher als vollkommen unmöglich angesehen und nur verrückten Fantasten zugeschrieben hätten, sind zur Realität geworden. Die Forderungen von Fridays for Future sind keine Utopie, sondern derzeit weit überholt, schaut man sich die gegenwärtigen Satellitenbilder unseres Globus an. COVID-19 hat uns in eine andere Realität geschleudert, geht über alle geografischen Grenzen und zwingt uns, eigene Denkbarrieren niederzureißen.
Aber was ist hier wirklich passiert?
Die Natur erhob ihr Haupt
Die COVID-19-Krise hat uns gezeigt, dass unser System durch seine Komplexität an einer Virus-Pandemie kollabieren kann. Was wir jedenfalls anhand der Corona-Krise sehen ist, wie unwahrscheinlich anfällig global vernetzte Systeme und Produktionsketten sind. Knock out – shut down – durch ein simples Grippevirus! Die Kabelbäume aus China fehlen, die riesigen Lederhäute aus Italien können nicht hergestellt werden, die entsprechenden Sitzbezüge in Rumänien daraus nicht genäht werden, verschiedene weitere Zulieferindustrien aus Polen und Frankreich haben ebenfalls ihre Pforten geschlossen und BMW muss nicht als einzige deutsche Automarke ihre Produktionsbänder für Wochen stoppen.
Den Überraschungseffekt hätten wir uns ersparen können, wenn wir in der Vergangenheit etwas mehr auf die Expertise von Virologen und Systemanalytikern gehört hätten. Die wunderten sich nämlich schon länger, dass ein mit COVID-19 vergleichbares Szenario nicht viel früher eingetreten ist.
Die rasant steigende Zahl der Weltbevölkerung, eine enorme Verdichtung in Ballungszentren, die rapide Erhöhung der Geschwindigkeit in allen Lebensbereichen, globalisierte Transportwege, Massenmobilität, ein extrem hohes und damit immunschwächendes Stressniveau, all das lässt einen klaren Rückschluss zu: Es wird enger, sogar sehr eng, um es genauer zu sagen, zu eng. Die Menschheit selber, so dicht gepackt und ständig auf der Achse, ist ein großartiger Wirtsorganismus für ein Virus.
Doch was uns so sehr zum idealen Wirt macht, ist tatsächlich nicht in erster Linie durch unsere Biologie als großes warmblütiges Säugetier festgeschrieben. Die wirkliche Nahrung der globalen Pandemie, das Sprungbrett des viralen Erfolgs, findet sich in unserer Lebensweise und der dahinter liegenden Geisteshaltung. Oder ganz einfach ausgedrückt: Die biologische Krise COVID-19 spiegelt in erster Linie eine ideelle Krise der gesamten Menschheit wider. Diese Erkenntnis geht durch Mark und Bein, weil sie uns einige brutale Wahrheiten auf dem Serviertablett präsentiert.
Erstens. COVID-19 ist, auch wenn es im Kleid einer Naturkatastrophe einherkommt, eine zivilisatorisch bedingte Krise. Unser Verhalten, unser Denken, unser Wertekanon, eben unser »way of living« dienen als Nährboden in der Petrischale des Globus für Pandemien wie den Corona-Ausbruch.
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