Martina Leibovici-Mühlberger - Die Burnout Lüge

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Die Art von Burnout, die unser Gesundheitssystem immer öfter diagnostiziert, gibt es in Wirklichkeit nicht. Das Phänomen Burnout ist eine Erfindung der Gesellschaft, die sich damit nicht dem wahren Problem stellen muss: Wir haben die Kontrolle und Reglementierung der Lebendigkeit auf die Spitze getrieben. Burnout-Patienten sind Vorreiter eines Systemcrashs, doch wir sehen die Warnung nicht. Die Gesundheits- und Wellnessindustrie verdient viel Geld mit der Diagnose Burnout, doch sie macht alles nur noch schlimmer. Denn Ruhe, Entspannung und Ausgliederung aus der Arbeitswelt sind der falsche Weg. Work, pray, love!, empfiehlt die renommierte Ärztin und Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger zur Vorsorge und Heilung: Wir müssen das, was Leben ausmacht, das Dynamische, Unvorhergesehene, Herausfordernde, wieder zulassen.

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Martina LeiboviciMühlberger Die BurnoutLüge Inhalt Einleitung Meine eigene - фото 1
Martina Leibovici-Mühlberger: Die Burnout-Lüge

Inhalt

Einleitung

Meine eigene Geschichte mit Burnout

Burnout – aber wovon reden wir hier eigentlich wirklich? Der apokalyptische Reiter am Horizont

Process in progress

Wenn der Vorhang fällt

Wer einmal auf die schiefe Bahn kommt, wird immer schneller

Interdependenz – das dynamische „misfit“

Die Mär vom schlechten Menschenmaterial und der miesen Organisationskultur

Der Eisberg taucht auf

Gesellschaft des Sinnverlusts – Gesellschaft der Entfremdung – Burnout-Gesellschaft

Wer nicht mitspielen kann, wird vom Spielfeld geschickt. Ein Leben im Hinterhof.

Das Geschäft mit der Angst

Wenn aus einem potentiellen „Burnout-Fall“ ein Systemkritiker mit Stil wird

Und wo sind wir heute in unserer schönen, neuen, bunten Welt angekommen?

Das falsche Konzept der Menschwerdung als wahrer Hintergrund: Menschwerdung über Angst, Kontrolle und Machtgier

Was wirklich hilft und was es Zeit ist zu tun: Menschwerdung über Mut, Vertrauen und Kooperation

Wie wir das leben können, was wir sind und trotzdem nicht verhungern

Love – Work – Pray oder: Was der Mensch zum sinnerfüllten Leben braucht

Love: Liebe ist kein Gefühl sondern eine Haltung

Work: Eine neue Art von von Arbeitsbegriff und Unternehmenskultur

Pray: Sich aufgehoben fühlen, ganz ohne Kontrolle

Nachwort

Einleitung

Wenn ich heute nach einem langen Praxistag im Auto säße und mir überlegte, ob ich nun zumindest einem neuen Cabrio einen guten Schritt näher wäre, wenn mich beim Aussteigen aus dem Flugzeug nach einer intensiven Konferenz, bei der ich mit Vortrag oder Workshop aktiv beitragen konnte, ein Gefühl von sinnloser Ausgelaugtheit befiele, oder aber, wenn mir nach der Klausur mit meinem Team die vor uns liegenden Aufgaben als unüberwindbar erschienen, dann wüsste ich, dass etwas wirklich grob falsch in meinem Leben liefe. Dann wüsste ich, um es mit der gängigen Modediagnose zu belegen, – und Einrasterung ist dieser Gesellschaft heilig – dass nun auch ich einem sogenannten „Burnout“ nahe bin.

Ich wüsste allerdings auch, ganz entgegen der allgemeinen Meinung, dass es nicht die Arbeitsbelastung ist, die gerade im Begriff ist, mir das Leben abzugraben. Arbeitsbelastung macht müde. Das ist ein normaler Prozess und für sich genommen nichts Pathologisches. Sehr viel Arbeit hat also die Potenz, einen sehr müde zu machen. Ist ja auch irgendwie logisch. Dann muss man eben schlafen gehen, statt sich noch die Nächte mit hippen Veranstaltungen oder, in der Schmalspurversion, mit seinen Lieblingsserien um die Ohren zu schlagen. Und mehr, seien wir ehrlich, gibt es zum Thema Arbeitsbelastung nicht zu sagen. Dafür haben, zumindest in jenen Ländern, in denen das Burnout auf Basis der herbeigeredeten arbeitsbedingten Ausbeutung als zunehmende Seuche grassiert, tonnenweise Arbeitsschutz- und Ruhebestimmungen gesorgt. Eine Paradoxie, an der alle medial die Arbeitswelt vorverurteilende Berichterstattung geflissentlich vorbeiblickt. Gerade in jenen postmodernen, wohlregulierten und wohlsituierten Gesellschaften der westlichen Hemisphäre gibt es ja wohl im Vergleich zu einem vom Arbeitsschutz nahezu „unbelasteten“ Dritt- oder Viertwelt-Industriebetrieb beim Thema Arbeitsbelastung und Ausbeutung wirklich beim besten Willen nichts mehr zu bemängeln. Schon ein nur wenig kritischer Blick auf die eigene Elterngeneration, die Burnout nicht wirklich kannte, legt nahe, dass es sich hier nur um das Spiel einer gesamtgesellschaftlichen Wehleidigkeit handeln kann.

Das würde allerdings, in oben genanntem Szenario, trotzdem nichts an meinem Problem „mich knapp vorm Zusammenbruch zu fühlen“ ändern. Zugegeben, da fühlt man sich in der ersten Sichtung seines Zustands dann nicht besonders arbeitsfähig, was wiederum für die rasch auf den Plan tretenden Vertreter der Helferindustrie im Kreisbeweisschluss die Pforte öffnet, um scheinbar schlüssig die Arbeitsbelastung lautstark als Verursacher und Übel zu brandmarken. Im Gegensatz dazu würde in der hypothetischen Fallstudie meines eigenen Burnouts die Tatsache glatt unter den Tisch fallen, dass ich mich, mein Menschsein und meinen Sinn, genauso wie dies die meisten um mich herum tun, bereits vor Längerem verraten habe, dass ich mir selbst und allem um mich herum also schon lange entfremdet bin. Denn die Konsequenzen der Anerkennung dieses Faktums wären weitreichend und beängstigend für eine auf Konsum, Kontrolle und Überregulation alles Lebendigen ausgerichtete Gesellschaft, wenn wir den Mut fänden, hier wirklich hinzuschauen.

Gerade deswegen setzt ein so ideologisches wie reflexhaftes Räderwerk im Umgang mit Burnout und seinen aufziehenden Gefahrenzeichen ein: Wenn mein Zustand als Besorgnis erregend, aber noch nicht wirklich desaströs einzustufen wäre, dann würde man mir mit sonorer Stimme im Ton sakraler Offenbarung dringend zu mehr „Work-Life-Balance“ raten, gute Freunde würden mir vom „gesunden Egoismus“ vorschwärmen, und alle wären der Ansicht, dass Arbeit und Verantwortung dringend zu reduzieren sind. Dann könnte ich mich noch eine Weile mit gut abgesteckten Boxenstopps in einem Wellnesstempel über Wasser halten und mir am Wochenende einen kleinen Shoppingkick als kurzfristigen Energiebooster verpassen. Exklusive Hobbys wie Drachenfliegen oder Heliskiing könnten eventuell auch noch helfen. Oder es stünde mir noch der Weg offen, Städtereisen zu sammeln, teure Uhren oder auch nur Swatches, wenn meine Praxis weniger gut ginge. Und dann blieben noch verkokste Sexpartys, die man mir angesichts der Bedrohung durch den völligen Zusammenbruch wohl durchaus nachsehen würde. Wenn ich Glück hätte, käme ich damit bis in die Pension. Wenn nicht, würde ich eben mittendrin zusammenbrechen und aufwändig auf Kur geschickt, ohne mich je meinem eigentlichen Thema der narzisstischen Sinnleere stellen zu müssen. So oder so – ich bliebe auf dem Kurs einer Gesellschaft, die mit der Burnout-Lüge gut vorgesorgt hat, weil alle mitspielen und viele daran verdienen.

Lange Zeit bin ich der Burnout-Lüge selbst aufgesessen, ja, ich war als Ärztin sogar ihr Handlanger. Ich habe mit großer Anteilnahme das Schicksal der überarbeiteten Gutmenschen mitbeklagt, Patienten ausufernd auf meinen Schoß genommen, sie darin bestätigt, dass sie schwerst erkrankt und unbedingt schonungsbedürftig wären, und habe mit ihnen Pläne zum unbedingten Erstarken ihres persönlichen Egoismus und einer drastischen Reduktion der Arbeitsbelastung ausgearbeitet. Verweigerung von Belastung und Einsatz, Dienst nach Vorschrift, Widerstand gegen die allgegenwärtige Ausbeutung durch die Arbeitswelt oder Familie. Dabei habe ich nur Symptome bekämpft, mitgeholfen, einen Plan für ein Überleben auf niedriger Ebene zu schaffen, angepasst zu bleiben. Die eigentlichen Ursachen aber habe ich damit weiter besichert und stabilisiert.

Meine eigene Geschichte mit Burnout

… ist eine sehr alte. Als ich Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Medizin studierte, hatte der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Herbert Freudenberger die psychologisch interessierte Kollegenschaft gerade mit einer ersten Veröffentlichung zu einem von ihm in Sozialberufen zunehmend beobachtbaren, frappierenden Phänomen aufhorchen lassen.

Sozialarbeiter, Psychologen, Krankenschwestern oder Vertreter anderer helfender Berufe, die über Jahre hinweg hoch engagiert ihren Berufspflichten nachgekommen waren, verloren plötzlich gänzlich ihren Elan, entwickelten eine zynische Einstellung zu ihren Klienten und verfielen in einen Zustand von Antriebslosigkeit und emotionaler wie physischer Erschöpfung, bis hin zu vollständiger Apathie. Mit dem Begriff „Burnout“ war ein Wortbild geschaffen, das die Gemüter zu erhitzen vermochte und zu näherer Begriffsbestimmung drängte. Zahlreiche verbale Beschreibungsversuche tauchten auf, die alle letztendlich einem bemühten Gestammel glichen.

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