Was sind dagegen schon fünf Jahre Beziehung? »Ich nehme auch einen«, sagte ich möglichst leise, gleich eingeholt von einem Gefühl der Schuld, das mich wie ein Schauer überkam, weil damit jeder wusste, dass ich meinen Sitznachbarn beobachtet hatte. Und dann der Preis: für zwei Zentiliter umgerechnet gut zwölf Euro. Meine Gewohnheit in Bars war eher, das billigste Bier des Hauses zu nehmen, Geschmack zweitrangig. Der Barmann sah mir das bestimmt an, nickte aber wie ein Ahnungsloser, suchte nach einem passenden Glas, wirbelte es durch die Luft, schenkte langsam ein und schob es über den Tresen zu mir.
Erst atmete ich die 17 Jahre ein, dann setzte ich das Glas an die Unterlippe, reichte nur ein Bisschen an meine Zunge, schwenkte es vorsichtig durch den Mund. Ein zaghafter Schluck. Der erste Teil von 17 Jahren war jetzt auch bei mir dahin. Feine Eleganz breitete sich aus. Erst schmiegte sich der Hibiki pflaumig und schwer in meine Mundhöhle, am Ende zitrusartig apfelig. Ob mir das gefiel, wusste ich nicht. Mir entwich ein Stöhnen, ich fühlte mich verführt und sofort dabei ertappt. Reflexartig tat ich so, als wäre nichts geschehen.
»Wie heißen Sie?«, fragte der Barmann. Der Ton seiner Stimme allein erklärte mir, dass ich keine Regel bräche, wenn ich mich abwendete und lieber stumm um mich schaute.
»Felix«, antwortete ich, wobei ich wusste, dass er sich jetzt mit seinem Nachnamen vorstellen würde.
»Ich heiße Tanaka.« Mit beiden Händen überreichte er mir die Visitenkarte der Bar Nocturne mit seinen Kontaktdaten. Er verschwand hinter einem dunkelgrauen Vorhang und kam mit einem kleinen Teller getrockneter Früchte zurück. »Willkommen.« Wir wechselten noch ein paar Worte. Von mir als Deutschem wollte er wissen, wie ich über die japanischen Fußballer in der Bundesliga denke, dann, was mein Job sei und ob ich öfter Whisky trinke. Ein Ja wäre zu dem Zeitpunkt noch gelogen gewesen.
Ein gutes halbes Jahr war ich nun hier, kannte Tokio noch nicht sonderlich gut, und Whisky hatte mich nie interessiert. Aber ich war aufgeschlossen. Als sich für Lena die erste Chance ergab, diese Stadt wieder zu verlassen, hatte sie die Flucht ergriffen. Jetzt wollte ich mich der Sogkraft Tokios erst recht ergeben, widerstandslos. Noch viele Drinks, Interviews und Artikel sollte ich brauchen, um zu erahnen, warum eigentlich. Bis mich dünkte, dass das Leben besonders vieler Menschen in Tokio ein Vorbild sein könnte für das, was auch in Europa und in vielen Ballungsräumen in anderen Teilen der Welt immer mehr Menschen umtreibt. Bis ich mich von Fragen überhäuft sah und mich auf die Suche nach Antworten machen musste.
Der Whiskygeschmack im Mund verließ mich, der raumlose Rückzugsort, der sich mit ihm aufgetan hatte, verschwand. Ich blickte vorsichtig um mich. Hinter den Rücken von uns Einzelgängern am Tresen lag eine Frau halb im Sofa an einem Tisch, der eigentlich für Vierergruppen gedacht war, und tippte auf ihrem Handy. Daneben ein Einzeltisch, daran eine junge Frau, die abwechselnd in ihrer Tasche kramte und in einem Buch las, dessen Titel ihr Geheimnis blieb, da sie das Cover in Papier eingewickelt hatte. Neben mir am Tresen starrte rechts der reglose Hibiki-Trinker an die Wand, links nahm ein alter Herr Platz und besetzte den Stuhl neben sich mit seinem Hut. Keiner sprach. Hier war jeder allein. Und darin irgendwie in guter Gesellschaft.
An einem anderen Tag spazierte ich durch eine der von Reklamen an Häuserwänden bewachten Straßen, die Lena und ich an Samstagen runtergeschlendert waren. Mir fielen Dinge auf, die bis dahin an mir vorbeigezogen sein mussten. Sicher waren sie nicht erst jetzt da, wo ich wieder Single war. Hinter den Fensterwänden von Cafés aßen überraschend viele junge Leute ihren Kuchen ohne Begleitung. Als ich zur Mittagszeit in ein Schnellrestaurant ging und mir bei einer Roboterstimme am Automaten Ramen-Nudeln bestellt hatte, nahm ich an einem der vielen Tische Platz, die für Einzelbesucher angerichtet waren. Beim Joggen in der Abenddämmerung entlang des breiten Tamagawa-Flusses lieferten sich Tennisspieler Duelle mit der Wand, ein Stück weiter hielten in Fußballmontur gekleidete Hobbysportler den Ball mit dem Fuß in der Luft, ohne Mit- oder Gegenspieler. Wieder begegnete mir Lenas Satz aus der Flughafenhalle von Dubai: »Hoffentlich finden sie auch als Singles irgendwie Liebe.« Damit hatte sie ihre engsten Freunde gemeint, aber hier ging es nicht nur um zwei einander Verflossene. In Gedanken an Lenas Frage, all die zuletzt in die Brüche gegangenen Beziehungen und im Angesicht dieser Einzelgänger in Tokio fragte auch ich mich: Wie würden sie sich ohne Liebe, diese Grundenergie für fast alles, durchs Leben kämpfen?
Lena fühlte sich von mir alleingelassen, weil ich mich in Arbeit und Studium stürzte und die Sprache lernen wollte, sodass für uns zwei tatsächlich nicht viel Zeit blieb. Das war zum Teil meine Schuld gewesen. Die Einzelgänger, die ich erst jetzt sah, waren für sie ein tägliches Spiegelbild gewesen, wurden nun zu meinem. Ihr hatte der Anblick nicht gefallen. Umso wichtiger war es wohl, dass wir unsere Beziehung zur üblichen Erzählung der unzerstörbaren Liebe machten. Liebe, das hieß für mich seit meiner Pubertät Zweierbeziehung, alles teilen, ob Geld oder Geheimnisse, gemeinsam Pläne machen, für meine Partnerin Liebhaber sein und gleichzeitig der beste Freund. Gerecht wurde ich diesem Anspruch leider nie, nicht in meiner Abizeit und auch nicht zu Anfang des Studiums. Meistens verließen meine Freundinnen mich, umgekehrt war es selten. Ihre Urteile schwankten zwischen unzuverlässig, wenn ich zu häufig Verabredungen absagte, und unberechenbar, wenn ich Gesprächen über die Zukunft auswich. Aus ihrer Sicht hatten sie natürlich alle recht mit ihrer Kritik. Entweder mich interessierten Sport, Bücher und andere Dinge, für die man keinen Partner braucht, ein bisschen zu sehr, oder schon der Gedanke, mich für immer dieser einen Person hinzugeben, verpasste meinem Magen ein unerträgliches Schwächegefühl, das nur durch das Ausbrechen aus dieser Enge heilbar schien. Aber um selber Schluss zu machen, dafür fehlte mir mal Mut, mal Tatendrang.
Aus irgendeinem Grund hatte Lena mich toleriert und ich war auch viel weniger unzuverlässig und unberechenbar gewesen als sonst, nur genügte das am Ende nicht mehr, denn wir wollten ja immer weiter. Die Liebe toleriert keinen Stillstand, sie will immer voller Erwartungen in eine rosige Zukunft deuten. »Ich rede ja nicht von Heiraten und Kinderkriegen, aber …«, so hatten viele Sätze begonnen, häufiger waren es ihre Sätze gewesen aber auch ich hatte so gesprochen. Für Lena bedeutete der Umzug hierher weniger ihr bedingungsloses Bekenntnis zu uns als vielmehr eine letzte Prüfung meiner Beziehungswürdigkeit. Durchgefallen. Nein, nein, kein Egoist, hatte sie mir versichert. Aber vielleicht »für eine normale Beziehung« doch nicht geschaffen? Das waren keine wohltuenden Worte gewesen. Keine meiner Beziehungen war so normal gewesen wie die mit Lena. Und vielleicht hätte ich einfach sagen sollen: Lass uns heiraten. Das wäre die Art von konkreter Bindung gewesen, die sie sich gewünscht hatte, vielleicht nicht die Ehe selbst, aber irgendein institutionalisiertes Versprechen, an dem man sich besser hätte orientieren können. Tragisch erschien mir dieser Konflikt mit ein bisschen Abstand, da es irgendwie keiner gewesen war, wir beide wollten doch miteinander sein. Ich hatte nicht das Richtige gesagt, weil ich ehrlich sein wollte. Eine Notlüge hätte alles gerettet. Aber es wäre mehr als eine Notlüge gewesen. Ich wollte die institutionalisierte Bindung, was auch immer für ein Fünfjahresplan das wäre, nicht, oder noch nicht. Zunächst wollte ich die Freiheit weiterleben, wobei Lena in dieser Vision von Freiheit immer einen festen Platz hatte. Nach der Trennung wollte ich sie oft anrufen, ihr alles nochmal erklären, aber wir hatten abgemacht, dass wir das nicht tun würden.
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