„Wir haben damals nicht wahrgenommen, dass du uns beachtet hast. Du warst ja der hochmütige, unnahbare Feldherr, dem eine riesige Armee gehorchen musste“, warf Jefunne ein.
Moses antwortete ihm: „Ich bedauere es sehr, dass es euch so vorkam. Ihr könnt mir glauben, Hochmut war mir nie zu Eigen. Genauso wie ihr hatte ich Angst, die Armee könnte untergehen. Ich hatte schlaflose Nächte, habe gegrübelt, wie man so eine Streitmacht, deren Kampfwagen unbesiegbar schienen, bezwingen könnte. Seht mich genau an. Nicht nur ihr beide seid alt geworden, auch ich bin ein alter Mann. Meine Ausdauer hat nachgelassen. Ihr sollt mir dabei helfen, die vielen Menschen anzuführen. Wir wollen aus den ungeübten jungen Männern unseres Volkes eine schlagkräftige Truppe formen. Frühmorgens, bevor wir aufbrechen und abends, wenn wir ein neues Lager errichtet haben, sollen sie den Umgang mit den Waffen üben. Sie müssen lernen, in geschlossener Formation einem Feind standzuhalten. Sie sollen die Wachen stellen, wenn wir einen Lagerplatz errichtet haben. Bei Gefahr müssen sie das Widderhorn blasen. Ihr beide kennt euch in militärischer Disziplin gut aus. Jeder soll eine Einheit dirigieren. Euren Kommandos werden die Männer bereitwillig Folge leisten, während viele in mir noch den Ägypter sehen.“
Die beiden sahen sich an, bevor Nun einwarf: „Moses, dein Vertrauen ehrt uns, doch sieh, wir sind ebenfalls alte Männer. Du verlangst sehr viel von uns.“
„Macht euch keine Sorgen. Es muss einen Anfang geben. Ich denke, wir können bald jüngere Anführer aussuchen, die im Kampf dem Heerbann vorstehen werden. Wir wollen zu Beginn die Männer nach ihrer Ausrüstung aufstellen, zuvorderst die Speerkämpfer mit Schild, Dolch und Spieß. Danach die Bogenschützen, und die ganz jungen sollen den Umgang mit der Steinschleuder erlernen.“
Jefunne und Nun waren gute Ausbilder. Zunächst murrten die Männer noch, da ihnen Disziplin etwas ganz Ungewohntes war. Aber mit der Zeit fanden sie Spaß daran, den Umgang mit ihren Waffen zu üben. Moses beobachtete alles ganz genau. Ihm fielen zwei junge Männer auf, die sich durch besonderes taktisches Geschick auszeichneten. Er fand, diese beiden könnten die Anführer der Krieger werden. Moses beschloss sich darüber mit Nun und Jefunne abzustimmen. Er erklärte ihnen: „Ich bin mit dem, was ihr bewirkt habt, sehr zufrieden. Ihr habt aus den widerspenstigen Lümmeln eine gute Armee geformt. Ich glaube, dass ihr zwei zukünftig nicht mehr bei den Kämpfern sein müsst, wenn sie ihre Übungen ausführen. Mir sind zwei junge Männer aufgefallen, die ich für fähig erachte, unsere Streitmacht anführen zu können.“
„Dein Lob tut uns gut. Wer sind die beiden? Zeige sie uns, damit auch wir unser Urteil abgeben können“, forderte Jefunne Moses auf.
„Seht dort drüben! Das sind sie, die beiden, die vor den anderen Männern stehen und ihnen zeigen, wie man geschickt die Vorteile des Geländes ausnutzt. Ich kenne nicht ihre Namen. Vielleicht könnt ihr mir sagen, wie sie heißen und wer ihre Väter sind?“
Nun war erstaunt. „Der vordere ist Kaleb, der Sohn Jefunnes, und der andere ist mein Sohn. Ist es Zufall, dass du gerade die beiden ausgewählt hast?“
Moses schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht an Zufälle. Dann würden wir noch in Ägypten festsitzen, und ihr müsstet immer noch aus dem glitschigen Nilschlamm Ziegel formen. Geht, schickt die beiden Männer zu mir, noch bevor wir zum nächsten Tagesmarsch aufbrechen. Ich will sie fragen, ob sie es sich zutrauen, die Streitmacht unseres Volkes anzuführen.“
In Begleitung Nuns und Jefunnes kamen die beiden Krieger zu Moses, der ihnen ihre zukünftige Aufgabe nannte. Ganz ohne Bedenkzeit erklärten sie sich bereit, den Auftrag zu übernehmen. Moses war von ihrem forschen Auftreten und Ehrgeiz beeindruckt. „Dann soll es so sein. Du bist der Sohn Nuns, ach ich nenne dich Josua, und deinen Namen weiß ich schon, du bist Kaleb, dein Vater ist Jefunne. Die Sippenältesten sollen gleich erfahren, wer zukünftig unsere Krieger anführen wird. Ich denke ihr werdet viel Zustimmung erhalten, schon eurer Väter wegen, die hohes Ansehen genießen.“
Josua und Kaleb erfüllten alle in sie gesetzten Erwartungen. Die wehrfähigen Männer waren unter ihrer Führung sehr bald eine flexible und kampfstarke Truppe geworden. Die ortsansässigen Sippen des bevölkerungsarmen Sinai wagten es nicht mit den durchziehenden Stämmen Streit zu suchen, und die vermieden es ihrerseits, die Einheimischen zu Bedrängen. Man war darauf angewiesen, die immer knapper werdenden Lebensmittelvorräte durch Tauschhandel mit den ansässigen Clans aufzufrischen und kam so auch an wichtige Informationen, die für einen gefahrlosen Weitermarsch sehr nützlich waren.
Aber Moses war mit der erreichten Organisation der Stämme noch nicht zufrieden. Eines Abends rief er die Stammesältesten zu sich. „Wie wird die Geschichte unseres Volkes bewahrt und weitergegeben? Ich weiß, ihr kennt die Namen unserer Vorväter und alle ihre Taten. Von Generation zu Generation wurden sie an den Lagerfeuern weitererzählt, und an manche Ereignisse konnte man sich irgendwann nicht mehr so genau erinnern. Auch ihr erzählt die Geschichten euren Nachkommen, und die werden sie ihren Kindern weitergeben. Unser Volk wird bald im verheißenen Land ankommen. Die Stämme werden dann feste Regeln und Gesetze brauchen. Man wird Richter bestimmen müssen, um deren Einhaltung zu überwachen.“ Moses redete viel, doch die Herrschaften saßen desinteressiert am Lagerfeuer lachten und sprachen über ihre eigenen Themen. Moses hielt verärgert kurz inne, konnte aber seinen Zorn gut unterdrücken. Dann sagte er: „Ihr wundert euch nun sicherlich, weshalb ich euch das erzähle? Ich will euch sagen, was zu tun ist, denn eure Nachkommen werden bald ein starkes Volk sein. Die Taten der Vorväter müssen aufgezeichnet werden, genauso wie die Gesetzte, die uns der Gott, der euch führt, noch geben wird“, erklärte er den Honoratioren.
„Nur die Ägypter haben eine Schrift. Sie ist umständlich. Du bist der einzige, der sie beherrscht. Von uns versteht sie niemand“, warf Aaron ein.
Moses ließ den Einwand nicht gelten. „Ich erinnere mich, dass vor noch nicht allzu langer Zeit einige Jungen die einfache Schrift der Stämme des Sinai erlernt haben. Haben sie dieses Wissen nicht an die Jüngeren weitergegeben? Fragt nach den Männern, welche diese einfache Schrift beherrschen. Sie sollen ausgewählte Knaben und Mädchen unterrichten.“
Einige der ehemaligen Schüler hatten das Erlernte wieder vergessen, doch es fanden sich noch fünf Männer, die in der Lage waren, ihr Wissen weiterzugeben. Für die einfachen Hirten und Handwerker, die den Ägyptern dienen mussten, waren die neuen Pflichten zunächst fremd. Nicht alle verstanden, warum die jungen Männer militärische Disziplin üben sollten und Kinder zum Erlernen des Schreiberhandwerks ausgewählt wurden. Aber nur wenige murrten. Die Begeisterung und Zuversicht, bald frei in einem eigenen Land leben zu können, überwogen.
Eines Abends, nachdem die Stämme einen guten Platz zur Errichtung ihres Nachtlagers gefunden hatten, machten sich die wehrfähigen Männer wieder auf, um zu exerzieren und sich im Gebrauch ihrer Waffen zu üben. Josua und Kaleb führten jeweils eine Einheit an. Die einen waren mit Speer und Dolch ausgestattet, die anderen kamen mit Pfeil und Bogen daher. Die ganz jungen oder diejenigen welche keine hochwertigen Waffen besaßen, waren inzwischen geschickte Steinschleuderer geworden. An einem Felsvorsprung übten sie markante Ziele zu treffen. Plötzlich war ein lauter Schrei vernehmbar. Ein Geschoss war am harten Felsgestein abgeprallt und hatte eine Frau, die hier unvorsichtigerweise unterwegs war, um eine entlaufene Ziege einzufangen, am Kopf getroffen. Zunächst hatte niemand den Unfall bemerkt, doch die Schreie der Schwerverletzten waren nicht zu überhören. Einige der jungen Männer eilten zu dem Felsspalt, aus dem die Schreie kamen und fanden dort die Verletzte. Doch noch bevor sie mit der Frau das Lager erreichen konnten, war kein Leben mehr in ihr.
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