Sei’s, mein Freund, dass jene kindliche orientalische Religion, jene Anhänglichkeit an das weichste Gefühl des menschlichen Lebens auf der andern Seite Schwächen gebe, die du nach dem Muster andrer Zeiten verdammest. Ein Patriarch kann kein römischer Held, kein griechischer Wettläufer, kein Kaufmann von der Küste sein; und ebenso wenig, wozu ihn das Ideal deines Katheders oder deiner Laune hinaufschraubte, um ihn falsch zu loben oder bitter zu verdammen. Sei’s, dass er nach spätern Vorbildern dir [40]furchtsam, todscheu, weichlich, unwissend, müßig, abergläubisch, wenn du Galle im Auge hast, abscheulich vorkäme: er ist, wozu ihn Gott, Klima, Zeit und Stufe des Weltalters bilden konnte, Patriarch! – hat also gegen alle Verluste späterer Zeiten, Unschuld, Gottesfurcht, Menschlichkeit: in denen er für jedes späte Zeitalter ewig ein Gott sein wird! der Ägypter kriechend, sklavisch, ein Erdtier, abergläubisch und traurig, hart gegen Fremde, ein gedankenloses Geschöpf der Gewohnheit – hier gegen den leichten, alles schön bildenden Griechen, dort gegen einen Menschenfreund im hohen Geschmack unsers Jahrhunderts, der alle Weisheit im Kopfe und alle Welt im Busen trägt – welche Figur! Aber nun auch jenes Unverdrossenheit, Treue, starke Ruhe – kannst du die mit der griechischen Knabenfreundschaft und Jugendbuhlerei um alles Schöne und Angenehme vergleichen? und wieder griechische Leichtigkeit, Tändelei mit Religion, Mangel gewisser Liebe, Zucht und Ehrbarkeit verkennen, wenn du ein Ideal, weiß nicht wessen, nehmen wolltest? Konnten aber jene Vollkommenheiten ohne diese Mängel in dem Maße und Grade ausgebildet werden? Die Vorsehung selbst, siehest du, hat’s nicht gefodert, hat nur in der Abwechslung, in dem Weiterleiten durch Weckung neuer Kräfte und Ersterbung andrer ihren Zweck erreichen wollen – Philosoph im nordischen Erdental, die Kinderwaage deines Jahrhunderts in der Hand, weißt du es besser als sie?
Machtsprüche Lobes und Tadels, die wir aus einem aufgefundenen Lieblingsvolke des Altertums, in das wir uns vergafften, auf alle Welt schütten – welches Rechtes seid ihr! Jene Römer konnten sein, wie keine Nation; tun, was keiner nachtut: sie waren Römer. Auf einer Welthöhe, und [41]alles rings um sie Tal. Auf der Höhe von Jugend auf, zu dem Römersinn gebildet, handelten in ihm – was Wunder? Und was Wunder, dass ein kleines Hirten- und Ackervolk in einem Tale der Erde nicht eisernes Tier war, was so handeln konnte? Und was Wunder, dass dies wieder Tugenden hatte, die der edelste Römer nicht, und der edelste Römer auf seiner Höhe, im Drange der Not, Grausamkeiten mit kaltem Blute beschließen konnte, die der Hirte im kleinen Tale denn nun wieder nicht auf der Seele hatte. Auf dem Gipfel jener Riesenmaschine war leider! die Aufopferung oft Kleinigkeit, oft Not, oft (arme Menschheit, welcher Zustände bist du fähig!) oft Wohltat. Eben die Maschine, die weitreichende Laster möglich machte, war’s, die auch Tugenden so hoch hob, Würksamkeit so weit ausbreitete: ist die Menschheit überhaupt in einem jetzigen Zustande reiner Vollkommenheit fähig? Gipfel grenzt an Tal. Um edle Spartaner wohnen unmenschlich behandelte Heloten. Der römische Triumphator, mit Götterröte gefärbt, ist unsichtbar auch mit Blute getüncht: Raub, Frevel und Wollüste sind um seinen Wagen: vor ihm her Unterdrückung: Elend und Armut zieht ihm nach. – Mangel und Tugend wohnen also auch in diesem Verstande in einer menschlichen Hütte immer beisammen.
Schöne Dichtkunst, ein Lieblingsvolk der Erde, in übermenschlichen Glanz zu zaubern – auch ist die Dichtkunst nützlich, denn der Mensch wird auch durch schöne Vorurteile veredelt – aber wenn der Dichter ein Geschichtschreiber, ein Philosoph ist, wie es die meisten zu sein vorgeben, und die denn nach der einen Form ihrer Zeit – oft ist sie sehr klein und schwach! – alle Jahrhunderte modeln – Hume! Voltaire! Robertsons! klassische [42]Gespenster der Dämmerung! was seid ihr im Lichte der Wahrheit?
Eine gelehrte Gesellschaft unsrer Zeiti gab, ohne Zweifel in hoher Absicht, die Frage auf: »welches in der Geschichte wohl das glücklichste Volk gewesen?« und verstehe ich die Frage recht, liegt sie nicht außer dem Horizont einer menschlichen Beantwortung, so weiß ich nicht, als zu gewisser Zeit und unter gewissen Umständen traf auf jedes Volk ein solcher Zeitpunkt, oder es war’s nie eines. Ist nämlich wiederum menschliche Natur kein Gefäß einer absoluten, unabhängigen, unwandelbaren Glückseligkeit, wie der Philosoph sie definiert: sie zieht aber überall so viel Glückseligkeit an, als sie kann: ein biegsamer Ton, sich in den verschiedensten Lagen, Bedürfnissen und Bedrückungen auch verschieden zu formen: selbst das Bild der Glückseligkeit wandelt mit jedem Zustande und Himmelsstriche – (denn was ist dies je anders als die Summe von »Wunschbefriedigungen, Zweckerreichungen und sanftem Überwinden der Bedürfnisse«, die sich doch alle nach Land, Zeit und Ort gestalten?) im Grunde also wird alle Vergleichung misslich. Sobald sich der innerliche Sinn der Glückseligkeit, die Neigung verändert hat: sobald die äußern Gelegenheiten und Bedürfnisse den andern Sinn bilden und befestigen – wer kann die verschiedene Befriedigung verschiedner Sinne in verschiednen Welten vergleichen? den Hirten [43]und Vater des Orients, den Ackermann und Künstler, den Schiffer, Wettläufer, Überwinder der Welt – wer vergleichen? – – Im Lorbeerkranze oder am Anblicke der gesegneten Herde, am Warenschiffe und erbeuteten Feldzeichen liegt nichts – aber an der Seele, die das brauchte, darnach strebte, das nun erreicht hat, und nichts anders als das erreichen wollte – jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!
Gut hat auch hier die gute Mutter gesorgt. Sie legte Anlagen zu der Mannigfaltigkeit ins Herz, machte jede aber an sich selbst so wenig dringend, dass, wenn nur einige befriedigt werden, sich die Seele bald aus diesen erweckten Tönen ein Konzert bildet und die unerweckten nicht fühlet als wiefern sie stumm und dunkel den lautenden Gesang unterstützen. Sie legte Anlagen von Mannigfaltigkeit ins Herz, nun einen Teil der Mannigfaltigkeit im Kreise um uns, uns zu Händen: nun mäßigte sie den menschlichen Blick, dass nach einer kleinen Zeit der Gewohnheit ihm dieser Kreis Horizont wurde – nicht drüber zu blicken: kaum drüber zu ahnden! Alles was mit meiner Natur noch gleichartig ist, was in sie assimiliert werden kann, beneide ich, streb’s an, mache mir’s zu eigen; darüber hinaus hat mich die gütige Natur mit Fühllosigkeit, Kälte und Blindheit bewaffnet; – sie kann gar Verachtung und Ekel werden – hat aber nur zum Zweck, mich auf mich selbst zurückzustoßen, mir auf dem Mittelpunkt Gnüge zu geben, der mich trägt. Der Grieche macht sich so viel vom Ägypter, der Römer vom Griechen zu eigen, als er für sich braucht: er ist gesättigt, das Übrige fällt zu Boden, und er strebt’s nicht an! Oder [44]wenn in dieser Ausbildung eigner Nationalneigungen zu eigner Nationalglückseligkeit der Abstand zwischen Volk und Volk schon zu weit gediehen ist: siehe, wie der Ägypter den Hirten, den Landstreicher hasset! wie er den leichtsinnigen Griechen verachtet! So jede zwo Nationen, deren Neigungen und Kreise der Glückseligkeit sich stoßen – man nennt’s Vorurteil! Pöbelei! eingeschränkten Nationalism! Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkte zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken. Die unwissendste, vorurteilendste Nation ist in solchem Betracht oft die erste: das Zeitalter fremder Wunschwanderungen und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Fülle, Ahndung des Todes!
III. Und der allgemeine, philosophische, menschenfreundliche Ton unsres Jahrhunderts gönnet jeder entfernten Nation, jedem ältesten Zeitalter der Welt, an Tugend und Glückseligkeit so gern »unser eigen Ideal«? ist so alleiniger Richter, ihre Sitten nach sich allein zu beurteilen? zu verdammen? oder schön zu dichten? Ist nicht das Gute auf der Erde ausgestreut? Weil eine Gestalt der Menschheit und ein Erdstrich es nicht fassen konnte, ward’s verteilt in tausend Gestalten, wandelt – ein ewiger Proteus! durch alle Weltteile und Jahrhunderte hin – auch, wie er wandelt und fortwandelt, ist’s nicht größere Tugend oder Glückseligkeit des Einzelnen, worauf er strebet, die Menschheit bleibt immer nur Menschheit – und [45]doch wird ein Plan des Fortstrebens sichtbar – mein großes Thema!
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