„Verdammt, melden Sie sich – wer ist da?“
„Ambrosius, bist du das?“ Das Weinen stockt ein wenig.
„Natürlich, und wer sind Sie?!
„Hier ist Heidelinde (Schluchz), es ist so schrecklich (Schluchz)!“
„Hallo Heidelinde, entschuldige, ich habe dich gar nicht erkannt. Beruhige dich doch – was ist denn passiert? Ist Achim etwas zugestoßen bei euch da oben?“
„Nein, nein, Achim geht es gut – aber Eva ist tot!“
Ein wilder Stromschlag trifft mitten in sein Herz, es rast los, Schwindel lässt ihn nach der Schreibtischplatte greifen, um Halt zu finden, der Mantel fällt zu Boden. Ihm wird speiübel.
„Was soll das, Heidelinde, das wissen wir beide schon seit einem Jahr. Musst du mich spät am Abend so erschrecken?“
„(Schluchz) Oh, tut mir Leid, wenn ich dich erschreckt habe, ich hatte nicht an deine (Schluchz) Eva gedacht. Ich meinte doch Eva Schirm, meine Walking-Freundin aus Mülheim (Schluchz). Sie ist tot!“
„Und woher willst du das wissen?“
„Wir haben hier Satelliten-Kabel-Fernsehen oder so und vorhin haben wir in die ,Aktuelle Stunde’ aus Duisburg hineingeswitcht. Und da haben sie gemeldet, dass im Duisburger Wald zwei Leichen gefunden worden sind, mit Fotos von der Frau. Es ist Eva Schirm, meine Freundin aus dem Walking-Klub – ist das nicht schrecklich?“
„Herr Schirm war vorhin hier und gab uns den Auftrag, sie zu suchen, weil er sie seit gestern vermisst, Heidelinde.“
„Was? Andreas, er war bei dir?“
„Ihr duzt euch? Er hat mir gesagt, er hätte dich nur zwei, drei Mal bei irgendwelchen Sommerfesten getroffen. Ganz unverbindlich, meinte er.“
„Ah, ja, ähm, das mit dem Duzen ist unter Sportlern doch wohl üblich, oder?“
„Kann sein, ist auch egal. Und du bist sicher, dass die Tote Frau Schirm ist?“
„Ganz sicher. Meine Güte, dieses Foto verfolgt mich, seit ich es gesehen habe. Kein Zweifel, dass es Eva ist, die Arme, so blass, so tot (Schluchz)!“
„Du hast von zwei Leichen gesprochen. Kennst du denn die zweite auch – weißt du, wer das ist?“
„Nein, den Mann kenne ich nicht. Der war so (Schluchz) um die fünfzig, den haben wir noch nie gesehen, meint Achim auch. Herrje, ist das schrecklich!“
„Dann gehe ich morgen früh gleich zur Polizei und melde mich bei denen mit deiner Zeugenaussage. Die sollen sich um Andreas Schirm kümmern, das ist deren Job.“
„Gute Idee. Wir können hier noch nicht weg, weil wir bis Donnerstag gebucht haben, aber abends sind wir immer im Hotel (Schluchz). Halte uns auf dem Laufenden, das Handy haben wir ja auch immer dabei (Schluchz).“
„Alles klar, Heidelinde, ich kümmere mich um alles. Nun beruhige dich bitte, du kannst es sowieso nicht ändern. Und grüße Achim schön von mir, ja?“
Es schellt. Ich gehe zur Sprechanlage: „Ja, bitte?“ Ich höre unter Krächzen: „Hallo, hier ist Kai-Uwe Gaukel mit Frau.“
„Ja und“, antworte ich leicht säuerlich, „was wollen Sie?“
Ich erinnere mich daran, wie vor einigen Wochen zwei Typen von den Zeugen Jehovas an der Haustüre in Kontakt mit mir treten wollten und ich echt Schwierigkeiten hatte, sie loszuwerden, nachdem sie hörten, dass jemand zu Hause war.
„Wir sind keine Zeugen Jehovas, wenn Sie das meinen. Wir wollen mit Ihnen über Ihr neues Buch sprechen.“
Das kann zwar ein Trick sein, aber man soll immer an das Gute in der Welt glauben – also drücke ich auf den Türöffner und trete ins Treppenhaus, um meinen Besuch zu begrüßen.
Ein kleiner schlanker Mittfünfziger stolpert fast die drei Stufen hoch, gibt mir die Hand und verneigt sich leicht.
„Wie gesagt, ich bin Kai-Uwe Gaukel, und das ist meine Frau Edeltraud“, weist er hinter sich. „Wir kennen uns vom Telefon.“
Die Frau kommt auch die Stufen hoch und grüßt mit erhobener Hand: „Hei, freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“ Auch sie ist Mitte Fünfzig, schlank und dunkelblond mit einem Stich ins Graue. Ich habe mir die beiden etwas größer vorgestellt.
Nach meinem „Treten Sie ein“ treffen wir drei uns im Wohnflur, von wo aus ich in die Küche bitte. Nach dreimaligem „Nach Ihnen“ zwischen Kai-Uwe Gaukel und mir schiebt er seine Frau voran, und wir folgen.
Sie sehen sich aufmerksam um. „Schön haben Sie’s hier“, nickt Frau Gaukel anerkennend. Wir setzen uns über Eck an den Küchentisch.
„Danke, wir fühlen uns auch sehr wohl hier. Darf ich Ihnen etwas anbieten, Wasser oder was?“
„Käffchen wäre nicht schlecht, wenn es keine Umstände macht, mit Milch und Zucker bitte. Für meine Frau schwarz“, Kai-Uwe Gaukel tätschelt die Hand seiner Edeltraud. „Sie ist auf Diät.“
„Was du immer erzählst, ich will nur auf mein Gewicht achten, das kann man doch nicht Diät nennen, das ist nur Vorsicht!“
„Okay, es bleibt dabei, keine Milch und keinen Zucker für meine Frau, sie ist auf Vorsicht.“
Während ich routiniert die Kaffeemaschine anwerfe und Geschirr auf den Tisch stelle, flüstern die beiden sich gegenseitig etwas ins Ohr.
„Was kann ich denn für Sie tun?“, unterbreche ich das Getuschel etwas zu laut vom Küchenschrank her. Die Kaffeemaschine läuft, und ich setze mich wieder.
Kai-Uwe Gaukel räuspert sich: „Ja, ähm, wir, ähm, wie gesagt, ähm, wir haben noch eine Bitte an Sie als Schriftsteller.“
„Na ja, Schriftsteller ist vielleicht etwas zu viel der Ehre – ich habe ja erst ein Buch veröffentlicht, vor über drei Jahren.“
Edeltraud Gaukel ereifert sich: „Aber dieses Buch ,Mission Marathon – Wie ich kein Superläufer wurde’ ist total toll, wir haben geweint vor Lachen. Weil wir auch laufen und uns alles so bekannt vorkam. Könnten Sie mir vielleicht ein Autogramm geben?“
Sie kramt lange in ihrer riesigen Handtasche und zieht mein Buch heraus. Ich hole meinen Füllfederhalter aus dem Arbeitszimmer und schreibe wie immer auf die erste Seite „Herzlich Ihr Lothar Koopmann“.
Schweigen entsteht.
„Und jetzt, was wollen Sie sonst noch von mir?“, frage ich gerührt.
Kai-Uwe übernimmt wieder das Wort: „Wie schon am Telefon gesagt, wollen wir, dass Sie im zweiten Buch über unseren Lauftreff schreiben, neue lustige Geschichten bringen, so wie beim ersten Buch, Wettkämpfe, Stürze, all den ganzen Kram, den wir erleben. Ein Buch über mich und meine Frau, Melanie, Ambi, Edgar, Manfred, Paul und all die anderen. Lustige Lektüre. Und bitte nicht so viel über Leichen, das ist ja schaurig!“
Die Kaffeemaschine blubbert aus, und ich schenke ein.
„Leider habe ich keine Plätzchen da. Wenn die erst einmal in der Wohnung sind, esse ich dauernd nur Süßigkeiten, Sie verstehen?“
„Kein Problem“, beruhigt mich Edeltraud Gaukel. „Das kenne ich, ich bin da auch vorsichtig. Was meinen Sie zu dem Vorschlag?“
Ich überlege. Eigentlich immer noch eine gute Idee. Meine eigenen Erfahrungen mit dem Joggen bis hin zum Marathon habe ich ja schon festgehalten in dem ersten Buch, da bin ich ausgesaugt. Aber so ein neuer lustiger Lauftreff, praktisch die Nachfolger ohne meine Wenigkeit und meine angetraute Ehefrau Christa, das könnte etwas bringen. Das wäre dann ein altes Thema im neuen Gewand. Die Metamorphose schlechthin. Machen andere ja auch, sich an den eigenen Erfolg anzuhängen. Und schließlich habe ich ja sogar schon angefangen ...
Ich schlürfe meinen Kaffee und blicke in vier leuchtende Augen vor mir, die gespannt auf meine Antwort warten.
Kai-Uwe Gaukel nickt mehrfach und fragt: „Und, was meinen Sie, ist das eine Idee? Wie finden Sie das?“ Er lächelt und hebt seine Tasse mit einer stummen Bitte um Nachschub.
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