Es vergingen einige Sekunden, bevor der Kommissar stockend zu erzählen begann: „Herr Hastenrath, hören Sie, ich darf Ihnen eigentlich nichts sagen, aber ich weiß, dass Peter Kleinheinz Ihr Freund ist. Und deshalb … ja, ich kann es selbst noch nicht fassen. Viel können wir noch nicht sagen, wir warten noch auf die Mordkommission aus Aachen und die Spurensicherung. Das ganze Haus ist voller Blut ... Peter hatte mich angerufen. Er war völlig verwirrt und hat nur gestammelt, dass etwas Furchtbares passiert sei. Ich habe gerade versucht, mit ihm zu sprechen, aber er ist noch nicht vernehmungsfähig. Im Moment muss man wohl von einer Beziehungstat ausgehen. Ein noch nicht identifizierter Mann wurde erschossen, Frau Hebbel ist allem Anschein nach sehr schwer verletzt. Mehr weiß ich noch nicht und selbst das dürfte ich Ihnen eigentlich nicht sagen. Ich schlage vor, Sie gehen jetzt nach Hause und wir machen hier unsere Arbeit. Wir müssen sowieso erst mal warten, bis der Staatsanwalt da ist. Sie können mich aber gerne in den nächsten Tagen anrufen.“ Dohmen gab Will seine Karte.
Der Landwirt steckte sie in seine Parkatasche und stammelte: „Danke, Herr Dohmen. Und bitte versprechen Sie mir, dass Sie alles für der Peter tun, was nötig ist.“
Dohmen nickte und antwortete mit belegter Stimme: „Das verspreche ich Ihnen, Herr Hastenrath. Peter ist nicht nur Ihr guter Freund, sondern auch meiner.“ Er reichte Will die Hand.
„So, und jetzt muss ich wieder rein – meine Arbeit machen.“ Will wartete noch, bis der Kommissar wieder im Haus verschwunden war, streng verfolgt vom verbiesterten Blick des jungen Polizisten. Er begab sich unter dem Flatterband hindurch zurück auf den Bürgersteig, machte Knuffi los und trat den Heimweg an. Es fühlte sich an, als würde er einen Mühlstein hinter sich herziehen, so schwer wurde ihm plötzlich ums Herz. An der Straßengabelung drehte er sich noch einmal um und beobachtete noch einige Minuten das aufgeregte Treiben. Ein Van fuhr vor, aus dem drei Personen in weißen Schutzanzügen stiegen. Mit Koffern und Gerätschaften in der Hand verschwanden sie schnell im Haus. Will war wie versteinert. Dann sah er, wie der junge Polizist, mit dem er aneinandergeraten war, fluchend auf dem Bürgersteig stand und angewidert seine rechte Schuhsohle betrachtete.
Wütend rief er seinen Kollegen zu: „Verdammte Scheiße. Hier hat einer an den Laternenmast gekackt!“
Zum ersten Mal, seit Will hier war, huschte ihm ein Lächeln übers Gesicht. Der Landwirt bückte sich und streichelte dem schwanzwedelnden Knuffi stolz über den Kopf: „Das hast du fein gemacht.“
Fredi Jaspers nippte lautstark an seinem Kaffee. Sabrina konnte das Schlürfen bis in die Küche hören. Sie musste lächeln, denn sie liebte diese kleinen Macken an ihrem Verlobten. Ihr Start in Saffelen war zwar aufregender gewesen, als sie es sich vorgestellt hatte, dennoch hatte sie sich schon nach kurzer Zeit in diesem ganz speziellen Kosmos ganz gut eingelebt. Die Menschen begegneten ihr weitgehend offen und freundlich, was natürlich auch daran lag, dass Fredi und dessen Freund Borowka die Fußballstars der Kreisliga-C-Mannschaft waren und zudem zu den engsten Freunden des hoch angesehenen Ortsvorstehers Hastenraths Will gehörten. Das hatte ihr sicher geholfen, sich zu akklimatisieren, schließlich hatte sie bis dahin Berlin nie verlassen. Aber ein so großer Unterschied schien zwischen ihrer hektisch-quirligen Heimatstadt und dem scheinbar verschlafenen Dorf an der holländischen Grenze gar nicht zu bestehen. An diesem Morgen beherrschte eine unfassbare Bluttat die Schlagzeilen. Die Heinsberger Zeitung, aber auch viele überregionale Zeitungen hatten groß aufgemacht mit der Geschichte um Peter Kleinheinz. Allzu viele Details gab es nicht, da die Staatsanwaltschaft eine strikte Informationssperre verfügt hatte, um die Ermittlungen nicht zu gefährden. Peter Kleinheinz war, soviel hatte Sabrina mitbekommen, eine Berühmtheit unter den Kommissaren in der Region. Er hatte einige spektakuläre Fälle gelöst, den letzten erst vor wenigen Wochen, und galt vielen seiner Kollegen als Vorbild, auch aufgrund seiner oft unkonventionellen Methoden. Umso unglaublicher war, was sich im Haus an der Saffelener Goethegasse zugetragen haben sollte.
Als Sabrina sich mit einem Cappuccino zu Fredi an den Frühstückstisch setzte, las dieser ihr laut und etwas holprig aus der Zeitung vor: „Hör dir das an, zusammenfassend muss man von folgendem Szenario ausgehen: Da seine Nachtschicht ausgefallen war, kam der bekannte Hauptkommissar Peter Kleinheinz am späten Samstagabend unerwartet nach Hause. Dort überraschte er seine Lebensgefährtin Bettina H. mit einem noch nicht identifizierten Mann im Bett. Offenbar aus rasender Eifersucht gab Kleinheinz zunächst Schüsse auf den Mann ab. Die Polizei fand den 42-jährigen später im Schlafzimmer. Der Notarzt konnte nur noch seinen Tod feststellen.“
„Unfassbar“, entfuhr es Sabrina, „dabei war der doch immer so nett und freundlich.“
„Man kann die Leute immer nur vor der Kopf gucken“, murmelte Fredi, bevor er weiter vorlas: „In einer Pressekonferenz am Sonntag äußerte sich Polizeisprecher Hanno Heinrichs wie folgt: ‚Die Obduktion ergab, dass das Opfer aufgrund von Schussverletzungen starb.‘ Nicht bestätigen hingegen wollte er, dass auch Bettina H. Schussverletzungen erlitt, obwohl vieles darauf hindeutet. Der 36-jährigen gelang offensichtlich schwer verletzt die Flucht. Eine Blutspur, die ihr zugeordnet wird, erstreckte sich die Treppe hinunter bis auf die Außenterrasse des Hauses, wo sie sich aufgrund der Wetterverhältnisse verlor. Seit gestern laufen umfangreiche Suchaktionen, bei der auch eine Hundestaffel eingesetzt wird. Wie unsere Zeitung aus gut unterrichteten Quellen erfuhr, soll Bettina H. einen erheblichen Blutverlust erlitten haben. Dass dieser auf eine Schussverletzung zurückzuführen ist, lässt die Aussage eines Nachbarn vermuten: ‚Ich hörte kurz hintereinander vier Schüsse‘. Dies deckt sich auch mit unseren Recherchen, dass aus der Dienstwaffe des mutmaßlichen Täters Peter Kleinheinz vier Kugeln abgefeuert wurden, von denen am Tatort aber nur zwei sichergestellt werden konnten. Kurz nach der Tat war der 44-jährige Kriminalhauptkommissar am Tatort festgenommen worden. Er leistete keinen Widerstand. Schmauchspuren an seiner Hand sollen belegen, dass es sich bei ihm um den Schützen handelt. Noch am Sonntag wurde ein Haftbefehl erlassen.“
Fredi legte die Zeitung zur Seite: „Unglaublich, oder?“ Sabrina, die gebannt zugehört hatte, nickte. Das meiste wusste sie schon, da sich Informationen in diesem kleinen Dorf meist schneller verbreiteten als im Internet, was allerdings zum Teil daran lag, dass die Internetverbindung in Saffelen ausgesprochen schlecht war. Auch zwei Tage nach den dramatischen Ereignissen konnte Sabrina alles noch nicht glauben. „Der Kommissar Kleinheinz ist doch so ein netter Kerl. Es ist doch noch gar nicht so lange her, dass er uns das Leben gerettet hat. Überleg mal: Jetzt lebe ich erst seit zwei Monaten hier in Saffelen und hier ist mehr los als früher immer in Berlin.“
Fredi schüttelte vehement den Kopf. „Moment mal. Du denkst bestimmt jetzt, ich hätte die ganze Zeit Scheiße erzählt. Aber ich schwöre dir: Die ersten dreißig Jahre meines Lebens war hier absolut nix los. Ich würde sogar sagen: doppelt so wenig wie nix.“
„Meinst du denn wirklich, dass Peter Kleinheinz zu so was in der Lage ist?“
Fredi hob die Schultern. „Wie gesagt, man kann Leute immer nur vor der Kopf gucken. Ich glaube, ich dürfte auch keine Pistole in der Hand haben, wenn ich dich mit ein anderer Mann …“
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