Die Krankheit war also ungewöhnlich schnell fortgeschritten.
Man verwechselt Daten oder Wochentage. Manchmal kann man die Uhr nicht mehr lesen. Man verliert Dinge und vergisst wichtige Verabredungen. Um solche Verfehlungen zu reduzieren, macht man sich Notizen, vergisst dann aber, dass man sich etwas notiert hat. Und wenn man merkt, was man vergessen hat, ist das zutiefst verstörend. Man kämpft gegen die Angst. Fragt sich, wie lange man noch ein Mensch bleibt …
»Im Sommer war sie sich sicher, an welcher Krankheit sie litt. Sie hat immer wieder ›Ich will sterben, ich will sterben‹ zu mir gesagt. Ich habe ihr Mut gemacht. Ihr gesagt, dass ich ohne sie nicht weiß, was ich tun soll. Sie gefragt, wer, wenn sie stirbt, die Blumen auf Toshiyas Grab gießen soll …«
Shiki blickte auf die Unterlagen.
Toshiya Kaji. Vor sieben Jahren an akuter myeloischer Leukämie verstorben. Dreizehn Jahre zum Zeitpunkt des Todes.
»Aber das hat eher das Gegenteil bewirkt … Das war vor drei Tagen.«
Die Beschreibung des Verbrechens begann also.
»Am 4. Dezember, richtig?«
»Ja. An Toshiyas Todestag.«
Er hatte seine Frau am Todestag seines Sohnes umgebracht …
Shiki fühlte sich, als würde man ihm mit einem schweren Gegenstand aufs Herz schlagen.
»Mittags sind wir zusammen zum Friedhof gegangen. Keiko hat das Grab gefegt, den Grabstein gründlich gereinigt und lange Zeit gebetet. Wenn er nicht gestorben wäre, wäre er an dem Tag volljährig geworden. Sie hätte gern ein Foto von ihm in festlicher Kleidung gemacht. Ihr standen Tränen in den Augen, als sie das gesagt hat. Aber …«
Kaji hörte auf zu reden und blickte ins Leere. In seinen Augen spiegelte sich die Szene wohl gerade noch einmal.
Shiki wartete schweigend.
Kajis trockene Lippen bewegten sich.
»Am Abend war Keiko sehr aufgeregt. Dass sie noch nicht zum Grab gegangen sei. Ich sagte ihr immer wieder, dass sie schon gegangen war, aber vergeblich. Sie konnte sich nicht erinnern. Keiko ist fast wahnsinnig geworden. Dass sie Toshiyas Todestag vergessen habe. Dass sie keine Mutter mehr sei. Kein Mensch mehr sei. Sie hat geschrien, dass sie sterben will … mit Händen und Füßen um sich geschlagen, ist herumgetobt und gegen Dinge gestoßen, hat mit Gegenständen um sich geworfen … Ich hab verzweifelt versucht, sie aufzuhalten, aber Keiko hat nur laut geweint und immer wieder gerufen: ›Bitte bring mich um, bring mich um! Ich will sterben, bevor ich Toshiya vergesse … Ich will wenigstens als Mutter sterben …‹ Hat meine Hände zu ihrem Hals geführt und gesagt: ›Ich flehe dich an, ich flehe dich an!‹«
Shiki ballte seine Hände im Schoß.
»Ich habe sie erwürgt … sie tat mir so leid, … dass ich sie mit eigenen Händen erwürgt habe. Es tut mir so leid …«
Tötung auf Verlangen …
Dann ein Quietschen. Kurita hatte seinen Stuhl zurückgeschoben und war aus dem Zimmer geeilt. Viertel nach neun. Der wollte wohl in der Pressekonferenz Kajis Geständnis weitergeben.
Shiki drehte sich wieder um.
In Kajis Augen standen Tränen. Aber sie waren immer noch genauso klar wie zuvor. Er hatte seine Frau von ihrem Leid befreit. War das der Grund dafür, dass seine Augen so klar waren?
Shiki wollte dieses Buch erst einmal schließen.
Eine gewichtige Aussage. Mit eincem Inhalt und einer Schwere, die seine Brust nicht tragen konnte. Es fühlte sich an, als würde Keikos Weinen und Schreien im Verhörzimmer widerhallen.
Doch bevor er eine Pause einlegen konnte, gab es noch eine Sache, die Shiki fragen musste. Und die hatte mit den »zwei fraglichen Tagen« zu tun, die der Leiter des Kriminaldezernats, Iwamura, erwähnt hatte.
»Polizeihauptmeister Kaji.«
Shiki blickte Kaji in die Augen.
»Was haben Sie nach der Tat gemacht?«
Kaji erwiderte Shikis Blick sofort.
Aber … er antwortete nicht.
15 Sekunden … 30 Sekunden … eine Minute …
Kaji war einfach still. Es war kein böser Wille zu erkennen. Keinerlei Widerstand. Nicht einmal seine Lippen zitterten. Der verkrampfte Körper von Protokollant Yamazaki sprach von seiner Anspannung. Die Stille war undurchdringlich.
Erstaunlich. Vor wenigen Minuten war Kaji noch ein Paradebeispiel für ein »volles Geständnis« gewesen.
Shiki beugte sich über den Tisch.
Kaji überlegte wohl, was die Frage bedeutete. Mit dieser kleinen inneren Hoffnung fragte Shiki ein zweites Mal.
»Nach der Tötung Ihrer Frau bis zu Ihrer Selbstanzeige sind zwei ganze Tage vergangen. Wo waren Sie währenddessen und was haben Sie getan?«
Kaji saß mit noch immer verschlossenen Lippen da.
Für einen Moment kreuzten sich Shikis und Yamazakis Blicke. Sie gaben sich ein Signal. Ihre Augen sagten:
Sōichirō Kaji ist »zur Hälfte geständig«.
Seit zehn Minuten saß Kaji wie ein Stein da.
Shiki hatte es nicht eilig.
Die »Nachbefragung« war, wie der Name schon sagte, lediglich eine Befragung zu den Ereignissen nach dem Verbrechen, etwas, das die Polizei der Form halber vor der gerichtlichen Verhandlung zu erledigen hatte. Und selbst wenn man nicht aufklären konnte, was nach dem Verbrechen passiert war, brachte das die Gerichtsverhandlung nicht ins Wanken. Kaji hatte bereits die Anbahnung des Verbrechens, die Tatzeit und den Verlauf gestanden. Der Inhalt seiner Aussage stimmte bis ins Detail, ließ keinen Raum für Unstimmigkeiten. Wollte man das Protokoll jetzt fertigstellen, gäbe es keinerlei Schwierigkeiten bei der Übersendung an die Staatsanwaltschaft, der Anklageerhebung oder dem Gerichtsverfahren. Kurz gesagt war die Nachbefragung nur eine Möglichkeit für den Verdächtigen, seine Geschichte zu Ende zu erzählen – nichts weiter.
Aber ihn als Vernehmungsbeamten hatte gerade dieser Punkt, man könnte ihn als »Verbrechens-Klatsch« beschreiben, aufmerken lassen. Wieso konnte er so locker über einen Mord reden, das schwerste aller Verbrechen, und dann in der Nachbefragung verstummen? Darüber brauchte man nicht lange nachzudenken. Für Kaji selbst war die wichtigere Story die, die nach dem Verbrechen passiert war; wichtiger als der Inhalt des Geständnisses.
Shiki nahm sich vor, erst einmal dieses Schweigen zu sezieren.
»Polizeihauptmeister Kaji … Ist Ihnen bewusst, dass Sie gerade schweigen?«
»…«
»Darf ich das so auffassen, dass Sie von Ihrem Recht zu schweigen Gebrauch machen?«
»…«
»Das bedeutet, dass Sie nicht über die Dinge sprechen wollen, die Sie zwischen dem Verbrechen und Ihrer Selbstanzeige getan haben, richtig?«
»Also …«, meldete sich Kaji zu Wort. Seine Stimme drohte wieder zu versiegen. »Muss ich es erzählen?«
Shiki verstand, was Kaji sagen wollte. Dass er seine Tat gestanden hatte und das Polizeipräsidium der Präfektur W den Fall an die Staatsanwaltschaft übergeben konnte.
Dass mehr nicht nötig sei.
»Sie müssen natürlich nicht.«
Als Shiki so antwortete, hob Kaji zum ersten Mal seinen Kopf.
»Ich habe nicht vor, es zu verschweigen. Aber kann ich Sie bitten, die Sache dann ruhen zu lassen?«
Ruhen lassen?
Im ersten Moment dachte er, die Tür sei eingetreten worden. Kurita kam mit ohrenbetäubendem Lärm ins Zimmer gestürmt.
»Herr Shiki! Bitte rufen Sie sofort bei der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit im Hauptquartier an! Der Leiter der Polizeiverwaltung wartet auf Ihren Anruf!«
»Aha …«, sagte Shiki desinteressiert und stand langsam auf.
»Wir machen hier um 13 Uhr weiter. Essen Sie in der Zelle zu Mittag und ruhen Sie sich etwas aus. Sie sind doch seit heut früh auf den Beinen.«
Kurita drängte weiter.
»Ich bitte Sie! Beeilen Sie sich!«
Sie verließen zu zweit den Raum. Im nächsten Augenblick hatte Shiki Kuritas zur Seite gescheiteltes Haar gegriffen und zog ihn daran den Korridor entlang. Zwei, drei Türen passierten sie, bis er ihn ins vierte Verhörzimmer brachte und ihn mit derselben Wucht zu Boden warf.
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