Paula ruft mir noch etwas zu, als wir die Straße entlang rennen. »Kann ich mich auf dich verlassen, dass du nicht wieder irgendeinen Unsinn anrichtest?«
Ich werde ihr noch die Wahrheit über diesen Rocker erzählen, nehme ich mir fest vor. Mal sehen, ob sie dann immer noch so sauer auf mich ist.
Wie stets laufe ich mit mulmigem Gefühl im Zug nach vorne. Lenny folgt mir durch die Abteile. »Du hast also nach wie vor diesen Tick, die Waggons zu durchsuchen, was? Ich kenne das noch von den Klassenfahrten in der Grundschule.«
Ich drehe mich kurz um. »Ich durchsuche nicht die Waggons, ich bin auf dem Weg zum Lokführer.«
»Ach stimmt, Ich hab mich nämlich gewundert, dass die dich alle kennen. Verrätst du mir, was es damit auf sich hat?«
Ich erreiche den Triebwagen, klopfe an die Tür. Einen Moment darauf steht der Lokführer mit einem schiefen Grinsen vor mir und öffnet. »Hi, Wanda.«
»War sie da?«, frage ich kleinlaut.
Er schüttelt den Kopf und streichelt mir über die Wange. »Sie war lange nicht da. Ich hoffe, ihr geht es einigermaßen gut.«
Erleichtert schnaufe ich laut durch und suche kurz Augenkontakt zu Lenny, der mich anlächelt. »Ja, sie ist im Heim. Ich glaube, sie fühlt sich ganz wohl dort.«
»Mach’s gut, Kleines«, sagt der Lokführer.
Nachdem er sich verabschiedet hat, verpasse ich Lenny einen Klaps in die Magengegend. »Wer als Erster im letzten Abteil ankommt, hat einen Wunsch frei.«
Lennys Überraschung ist schnell verflogen. Mit großen Schritten überholt er mich an der Tür zum nächsten Abteil. Dort stehen ihm aber zwei ältere Damen im Weg. Während er wartet, bis sie Platz nehmen, klettere ich über eine Sitzbank und lasse ihn hinter mir. Im folgenden Waggon lauf ich jedoch der Zugbegleiterin direkt in die Arme.
»Langsam, junges Fräulein«, sagt sie mit strenger Stimme. Als sie mich festhält, drängt sich Lenny wieder vorsichtig an mir vorbei in Führung, die er auch nicht mehr abgibt. Zu meinem Pech erkennt mich die Schaffnerin auch noch. »Du bist doch Wanda, nicht wahr?«
»Ja.«
Sie lässt mich los. Ihr verärgerter Blick verlangt allerdings wohl nach einer Entschuldigung, wie ich erkenne. »Sorry.«
Sie streichelt mir über den Hinterkopf. »Ist ja nichts passiert, Kleines. Grüß mir deine Oma.«
Angesichts von Lennys Vorsprung gebe ich auf und schlurfe den Rest der Strecke vor mich hin, bis ich mich am Ziel unseres Wettrennens neben ihn auf die Sitzbank plumpsen lasse.
Er schaut mich fragend an und ich lüfte mein Geheimnis: »Du willst das mit Oma wirklich wissen, ja?«
Er nickt und kichert leise. »Es hat mit ihr zu tun, das dachte ich mir schon.«
»Stimmt. Opa hat früher bei der Bahn gearbeitet, er war Lokführer. Kurz nach seinem Tod ging bei Oma die Demenz los, weißt du …« Ich verstumme kurz in Gedanken an meine Großeltern. »Jedenfalls hat sie ihn immer von der Arbeit abgeholt. Das war so ein Ritual zwischen den beiden, sagt Mama. Als er starb und sie manchmal verwirrt war, lief sie einfach wie vorher zum Bahnhof. Die Kollegen von Opa riefen uns dann an. Sie macht das heute noch, sogar in Berlin, von dem Seniorenheim aus, wo sie jetzt lebt.«
»Seither musst du dich vergewissern, dass deine Oma nicht im Zug ist?«
»Hm«, gebe ich mich schweigsam. »Peinlich, was? Das ist wie ein Zwang. Ich kann mich nicht dagegen wehren.«
Lenny zwickt mich in die Seite. Ich lache amüsiert. »Du musst dir keine Gedanken machen. Ich finde, das ist eine bewegende Geschichte.« Eine Weile herrschte Stille, bis er sie wieder brach. »Du, Wanda?«
»Ja?«
»Erklärst du mir jetzt, wie wir das alles schaffen sollen mit deinem Brüderchen?«
Ich hole Paulas Tablet aus dem Rucksack. »Wir legen los, so, wie wir es bei mir zu Hause besprochen haben. Als Erstes nehmen wir uns eine Tagesmutti vor, dann einen Waldkindergarten. Vielleicht auch noch die Kinderakademie. Für mein Brüderchen kommen nur die besten Einrichtungen infrage. Papa sagt nämlich, in der Früherziehung kann man viel falsch machen. Kitas und normale Kindergärten kenne ich ja aus eigener Erfahrung, da müssen wir eigentlich nicht unbedingt lange auf die Suche machen.«
»Warum willst du eigentlich gerade in Berlin suchen?«
»Lebst du hinter dem Mond?«, nehme ich ihn hoch. Tatsächlich aber stand das für mich von Anfang an außer Frage, dort alles zu regeln. »Berlin ist doch eine Weltstadt.«
Lenny schnappt sich das Tablet und surft im Internet. »Was ist mit einem Au-pair? Mein Kumpel aus der Schule hatte eines. Er fand das toll, hat er mal erzählt.«
»Da hab ich noch gar nicht dran gedacht. Ist wohl so ähnlich, wie ein Kindermädchen bei reicheren Leuten, oder?«
»Glaub schon, ja.« Er präsentiert mir das Ergebnis seiner Suche auf dem Tablet. »Und da fangen wir an.«
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