Ich werde wieder ernster. »Du, Lenny …«
»Ja?«
»Diesmal ist es sehr wichtig und nicht nur ein Streich.«
»So? Worum geht’s?«
Ich weihe ihn stockend ein. Bei jedem weiteren Satz wächst meine Sorge, er könnte mich für verrückt erklären. Doch meine Hoffnung, alles nicht allein durchstehen zu müssen, sinkt dagegen zu meiner eigenen Überraschung nicht.
Auf Lenny ist Verlass, da bin ich ganz sicher. Obwohl er noch Zweifel zu hegen scheint. Früher jedenfalls nahmen wir so ziemlich jedes Abenteuer zusammen in Angriff. Er wird mich nicht im Stich lassen, hoffe ich, auch diesmal nicht.
»Ist das dein Ernst?«, fragt er, als wir vor meinem Elternhaus ankommen. »Eigentlich kümmern sich um so etwas doch die Erwachsenen, oder?«
»Schon«, stimme ich zu, als ich vom Gepäckträger heruntersteige.
Er lehnt sein Rad bei uns an den Zaun und schließt sein Schloss um eine Latte. Dann schaut er mich mit großen Augen an. »Und?«
»Die können ja jetzt nicht. Mama kriegt mein Brüderchen und Papa muss ihr beistehen. Also muss ich einspringen. Ich habe sozusagen keine andere Wahl. Bei so etwas spricht man wohl von ›höherer Gewalt‹.«
Lenny grübelt, kratzt sich am Kinn. »Eigentlich logisch, aber … Naja, du hast dich schon immer Sachen getraut, vor denen andere Angst hatten. Erinnerst du dich an meinen Nachbarn Herrn Baier? Der mit dem Apfelbaum im Garten?«
Ich muss lachen. »Ja, da bin ich oft über den Zaun geklettert und habe für uns Obst besorgt. Seine Äpfel waren aber auch die besten. Die anderen Kinder hatten Schiss, weil Herr Baier so geschimpft hat, wenn er uns dabei erwischt hat.«
Noch während ich das sage, fällt mir ein, was Mama oft erzählte: dass ich nach einer kleinen Probezeit schon früher alles selbst machen wollte: Laufen, Schwimmen, Rad fahren. Bei meinem Dickkopf war Hilfe nicht gewünscht, meinte meine Mutter dazu nur.
Ich schließe die Tür auf, renne die Treppe hinauf und verschwinde kurz in Paulas Zimmer. Wieder zurück unten, präsentiere ich Lenny ihr Tablet. »Damit kriegen wir das hin, Paula hat eine Mobil-Flat.«
»Cool.« Todernst blickt er in meine Augen. »Meinst du wirklich, wir tun das Richtige? Auch wenn es Ärger geben sollte?«
»Klar«, sage ich. »Erst vor knapp einer Woche habe ich Mama und Papa abends miteinander quatschen gehört. Dreimal darfst du raten, um welches Thema es ging. Mama sagte dabei gleich öfters, wie wichtig es sei, sich rechtzeitig um einen Kitaplatz zu kümmern. Oft sind die Plätze nämlich nicht ausreichend, das hab ich selbst in der Zeitung gelesen. Und wenn wir schon mal alles regeln, kann es nicht schaden, gleich die Schule und vielleicht sogar eine passende Universität zu finden. Papa sagt immer, die Schulbildung ist heute mit das Wichtigste im Leben. Außerdem habe ich noch etwas anderes vor. Etwas, das nicht unbedingt mit Kindergarten und Schule zu tun hat.« Ich suche Lennys Blick. »Etwas, das aber mindestens genauso wichtig ist.« Ich schaue Lenny verträumt an. »Sehr, sehr, sehr wichtig.«
»Was meinst du?«
»Verrate ich jetzt nicht. Was hältst du nun von meinem Plan?«
»Klingt schon irgendwie einleuchtend«, meint Lenny. Ich scheine ihn überzeugt zu haben.
Wir gehen in die Küche. »Ich packe uns etwas Proviant ein.« Aus dem Kühlschrank greife ich mir einige Sandwiches, Saft und Wasser. Dann schnappe ich mir meinen Schulrucksack von der Garderobe im Flur und fülle ihn mit den Lebensmitteln und Getränken. Ich gehe zu Lenny und bleibe erwartungsvoll vor ihm stehen. »Also, bist du dabei?«
Als könne sie jeden Augenblick wie ein aktiver Vulkan ausbrechen und uns mit glühend heißer Lava den Ausweg versperren, verbaut Lenny und mir jemand von innen die Tür meines Elternhauses. Mit verschränkten Armen, vollkommen genervt und stocksauer steht sie da und verdreht, kaum dass sie mich sieht, die Augen: Paula. Nur einen Moment, bevor wir das Haus verlassen wollten, ist sie hereingekommen. Eigentlich wollten wir weiter zum Bahnhof, Lenny hat mir seine Hilfe versprochen. Mit Paulas Aufkreuzen habe ich nicht gerechnet. Jetzt muss ich mich vor ihr auch noch rechtfertigen. Dabei habe ich doch nur Gutes im Sinn.
»So, du kleine Kröte, da wunderst du dich, dass ich schon zurück bin, was?«, faucht Paula mich an. »Ich hab den Bus genommen. Auf den letzten Metern von der nächsten Haltestelle aus hab ich dann auch noch einen Absatz von meinen Schuhen verloren. Ich bin genervt hoch drei. Nur weil Fräulein Wanda wieder ihre Extratouren macht. Unsere Eltern waren echt enttäuscht von dir. Und wer darf dir hinterherrennen? Na klar, ich! Also überlege dir gut, was du jetzt machst.«
Wir betrachten ihre hochhackigen Treter. »Das tut mir leid, Paula.« Ihrem Blick nach interessiert sie das wenig. Dennoch muss ich ihr klarmachen, wie wichtig mein Plan ist. Und das am besten, ohne ihr nur die kleinste Kleinigkeit zu verraten.
Ihr Gesichtsausdruck lässt nun keinen Zweifel: Paula will Antworten. »Also, was soll das? Warum bist aus dem Auto gesprungen?«
Mir fällt auf die Schnelle nichts Überzeugenderes ein, als: »Wir planen eine Überraschung für Mama und Papa.«
Paula grinst. Sie hält es für eine Ausrede. »Ausgerechnet jetzt, wenn sie ins Krankenhaus fahren, soso.« Ihr Augenmerk richtet sich auf Lenny, der erstaunlich locker bleibt, und dann auf meinen vollgepackten Rucksack. »Was macht er eigentlich hier? Und wo wollt ihr hin?«
Ihr Ton schüchtert mich ein, aber ich lasse mich nicht beirren. Zu wichtig ist mein Vorhaben. »Ich kann es dir nicht sagen, Paula. Nicht jetzt.« Ich greife nach ihrer Hand. »Bitte, trau mir doch einmal etwas zu. Nur einmal! Es dreht sich wirklich nur um eine Überraschung für unser Brüderchen.«
Sie schaut mir tief in die Augen. Als wolle sie herausfinden, ob ein Funken Ernst in meiner Aussage lag. »Und was sage ich unseren Eltern?«
»Sag ihnen nur, dass es für unser Geschwisterchen ist.« Beim nächsten Satz wundere ich mich selbst über meine Ausdrucksweise und die Überzeugung, die in meinen Worten liegt: »Dass es für seine Zukunft unerlässlich ist.« Ich merke, wie Lenny mich beeindruckt ansieht, Paula eher befremdlich.
»Hast du sie noch alle, Wanda? Was erwartest du jetzt von mir? Ich soll dich zu Mareike verfrachten, und nicht irgendeinen irren Plan von dir unterstützen.« Sie wird wütend. »Überhaupt, wer hat Mama damals gesteckt, dass ich mit dem Typen aus der Rockerclique herumgeknutscht habe? Und auf seinem Motorrad mitgefahren bin? Da hast du auch nicht dichtgehalten.«
»Ja, aber du weißt doch gar nicht, warum!«
»Was, warum?«
Wieso ich gepetzt habe, will sie wissen. Mama kannte den Grund und meinte nur, dass ich das richtig gemacht habe. Doch Paula kannte nicht die ganze Geschichte.
Noch immer sieht sie mich böse an. Jetzt ist auch schon alles egal, sie wird mich sowieso nicht unterstützen, leuchtet mir ein.
»Und dass ich beim Herumtoben dein Smartphone fast geschrottet …« Noch im Satz fällt mir ein, dass ich ihr das noch gar nicht gestanden habe.
»Ach, deshalb geht die Kamera nicht mehr. Aha, gut zu wissen.« Paula löst ihre Hand aus meiner, wendet sich ab, will gehen. »Mach doch, was du willst!«, blafft sie mich an.
Wenn ich ihr nun noch beichten würde, dass ich ihr Tablet im Rucksack habe, würde sie total durchdrehen. Aber ich brauche es auf der Zugfahrt nach Berlin. Es ist klüger, das nicht zu erwähnen. Ich würde es hüten wie meinen Augapfel, beschließe ich. Aber jetzt ist nicht die Zeit für Erklärungen. Und auch nicht für ausführliche Entschuldigungen.
»Sorry, Schwesterherz«, sage ich zu Paula, halte sie am Arm fest, stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse sie auf die Wange. »Ich erkläre dir später alles. Bitte halte mich auf dem Laufenden, wenn unser Brüderchen auf dem Weg ist.« Dann schnappe ich mir Lennys Hand und zerre ihn an Paula vorbei aus der Wohnung.
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