Ein einzelner epileptischer Anfall limitiert sich in der Regel von selbst, d. h. er hört auch ohne die Gabe einer Bedarfsmedikation auf. Die Verabreichung eines akut wirksamen Medikaments ist deshalb bei oder nach einem einzelnen epileptischen Anfall in der Regel nicht erforderlich. Eine Ausnahme stellt der – im Fall eines Grand-mal-Status lebensbedrohlich – Status epilepticus dar. Dieser ist durch eine mehr als fünf Minuten andauernde Anfallsaktivität oder mindestens zwei Anfälle definiert, zwischen denen das Bewusstsein oder der vorherige neurologische Status nicht wiedererlangt wird. In diesem Fall ist neben der Gabe eines Bedarfsmedikaments, in der Regel eines Benzodiazepins, der Notarzt zu rufen.
1.14 Weitere Behandlungsformen
Bei Vorliegen einer Autoimmun-Enzephalitis ist ggf. eine kausale Behandlung mittels immunmodulatorischer Medikamente möglich.
Epilepsiechirurgische Eingriffe werden in resektive Eingriffe (Entfernung des epileptogenen Fokus ggf. einer Hirnhälfte) und palliative Eingriffe unterteilt. Zu den Letzteren gehören die Vagusnervstimulation und die Kallosotomie (Trennung des die Hirnhälften verbindenden Balkens). Diese führen in der Regel nicht zur Anfallsfreiheit, können aber lindernd wirken. Durch eine Kallosotomie können mit einer hohen Wahrscheinlichkeit Sturzanfälle verhindert werden.
Dieses Kapitel ging auf grundlegende Fragen zur Epilepsie ein. Selbstverständlich ist es nicht möglich, alle wesentlichen Fakten, mit denen ja schließlich sonst ganze Lehrbücher gefüllt werden, in einem einzelnen Kapitel zu behandeln. Deshalb wird auf weiterführende Literatur verwiesen, z. B. auf das Betheler Praxisbuch (2020).
Beghi E, Carpio A, Forsgren L et al. (2010) Recommendation for a definition of acute symptomatic seizure, Epilepsia, 51(4), S. 671–675
Bien CG (Hrsg.) (2020) Allgemeine Epileptologie. Das Bethel-Praxisbuch. Stuttgart: Kohlhammer
Brandt C, Baumann P, Eckermann G et al. (2008) Therapeutic drug monitoring in epileptology and psychiatry, Nervenarzt, 79(2), S. 167–174
Brandt C, May TW (2011) Therapeutic drug monitoring of newer antiepileptic drugs, LaboratoriumsMedizin, 35(3), S. 161–169
Brandt C (2019) Pharmacodynamic monitoring of antiepileptic drug therapy, Therapeutic drug monitoring, 41(2), S. 168–173, DOI: 10.1097/FTD.0000000000000623
Fisher RS, Acevedo C, Arzimanoglou A et al. (2014) ILAE official report: a practical clinical definition of epilepsy, Epilepsia, 55(4), S. 475–482
Fisher RS, Cross JH, French JA et al. (2017) Operational classification of seizure types by the International League Against Epilepsy: Position Paper of the ILAE Commission for Classification and Terminology, Epilepsia, 58(4), S. 522–530
Kwan P, Arzimanoglou A, Berg AT et al. (2010) Definition of drug resistant epilepsy: consensus proposal by the ad hoc Task Force of the ILAE Commission on Therapeutic Strategies, Epilepsia, 51(6), S. 1069–1077
Lutz MT, Helmstaedter C (2005) EpiTrack: tracking cognitive side effects of medication on attention and executive functions in patients with epilepsy, Epilepsy & Behavior, 7(4), S. 708–714
Scheffer IE, Berkovic S, Capovilla G et al. (2017) ILAE classification of the epilepsies: Position paper of the ILAE Commission for Classification and Terminology, Epilepsia, 58(4), S. 512–521
1In diesem Herausgeberband wird überwiegend der »Gender-Stern« genutzt, um alle Geschlechter anzusprechen. Wenn bei bestimmten Begriffen, die sich auf Personengruppen beziehen, nur die männliche Form gewählt wurde, so ist dies nicht geschlechtsspezifisch gemeint, sondern geschah ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit.
2Wolters Kluwer Health, Inc. und seine Gesellschaften übernehmen keine Verantwortung für die Richtigkeit der Übersetzung des veröffentlichten englischen Originals und haften nicht für eventuell auftretende Fehler.
2 Anfälle beobachten und Erste Hilfe bei Anfallsereignissen
Petra Ott-Ordelheide
2.1 Einleitung
Anfälle und deren Formen haben eine zentrale Bedeutung für die Klassifikation eines Epilepsiesyndroms und damit sind sie wegweisend bei der Behandlung einer Epilepsie. Anfallsbeobachtung und die Beschreibung der Anfälle sind ein wichtiger Teil der Diagnosefindung und Therapieentscheidung. Handelt es sich um eine Epilepsie oder um eine andere Erkrankung? Wie soll die Epilepsie klassifiziert werden? Diese und andere Fragestellungen lassen sich nur mit Hilfe der schriftlichen Schilderung der charakteristischen Symptome eines Anfalls beantworten.
Auch die Ermittlung der Verlaufskontrolle, wie beispielsweise die Einschätzung der Anfallsfrequenz, oder die Wirkung der aktuellen antiepileptischen Therapie sind auf die Angaben in der Anfallsdokumentation angewiesen.
Freizeit, Beruf und jeder Lebensbereich im Alltag werden durch eine Epilepsie beeinflusst. In vielen Aspekten können Patient*innen mit Epilepsie auf Unterstützung angewiesen sein: Pflegende benötigen Kenntnisse der Anfallsformen und Hilfsmittel, um eine epilepsiebezogene Einzelberatung (
Kap. 10) durchführen zu können.
Nur durch die intensive Wahrnehmung der Anfälle kann beurteilt werden, welche Risiken sich aus diesen ergeben können: Bewusstseinsverlust, Stürze sowie unangemessene Handlungen während des Anfalls sind für sozialmedizinische Gutachten oder die Feststellung einer Fahrerlaubnis von zentraler Wichtigkeit.
Die Untersuchung des Anfallsverlaufes und der Frequenz der unterschiedlichen epileptischen Ereignisse sind das A und O, um das Outcome und die Prognose der Erkrankung einzuschätzen. Ein bedeutender Aspekt der Pflege von Menschen mit Epilepsie ist die Begleitung der Anfälle. Für die Beurteilung und Einordnung der Anfälle sind Kenntnisse der Neuroanatomie eine wichtige Voraussetzung, um verstehen zu können, wie sich Anfälle entwickeln können. Die Sorge für die Sicherheit der Patient*innen mit Anfallsereignissen, das Vermeiden von Komplikationen durch Anfälle und die Begleitung vor, während und nach einem Anfall sind zentrale Aufgaben der Profession Pflege.
Dokumentation und Beobachtung von Anfällen im klinischen Setting, aber auch in Einrichtungen der Eingliederungshilfe (nach Bundesteilhabegesetz, BTHG), sollen dazu beitragen, eine einheitliche Sprache der Dokumentation von Anfällen zu entwickeln und damit die Behandlung der Epilepsien zu unterstützen. Entscheidungen über die Art und den Umfang von fachlichen Betreuungsleistungen sind von der Anfallsart und -frequenz abhängig. So benötigen Patient*innen mit nächtlichen Anfällen eine Betreuung in der Nacht in ihrem persönlichen Wohnumfeld.
Die Ausbildung einer gemeinsamen Systematik zur Erfassung der Anfallsereignisse ist wichtig, um die interprofessionelle Kommunikation zu erleichtern – unabhängig vom Stationskontext –, epileptische Begebenheiten einheitlich zu benennen und mit Patient*innen in einen Dialog eintreten zu können, der eine gemeinsame Deutung der Erfahrungen in Zusammenhang mit der Epilepsie ermöglicht.
Bei der Dokumentation der Anfälle ist immer wieder ein Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Anforderungen der Berufsgruppen bezüglich der Anfallsbeschreibungen zu finden. Für Pflegende stehen Stürze und Beeinträchtigungen der Alltagskompetenzen im Vordergrund, Mediziner*innen priorisieren häufig klassifikatorische Merkmale. Dabei hat sich bewährt, dass sich die Dokumentation am Erscheinungsbild des Anfalls orientieren sollte und außerdem die Pathophysiologie berücksichtigt wird.
Im Zeitalter von vielfältigen digitalen Diagnostik-Möglichkeiten (insbesondere die Video-EEG-Diagnostik) und der Verfügbarkeit der elektronischen Dokumentationssysteme nimmt die Bedeutung der Beschreibung von Anfällen in Erzählform deutlich ab, nichtsdestotrotz ist die Wahrnehmung der Anfälle durch unterschiedliche Berufsgruppen, Angehörige und natürlich Patient*innen selbst von großer Relevanz für den Behandlungsprozess. Außerdem wird eine gemeinsame Sprache benötigt, mit der die Anfälle in der Übersicht einer Patientendokumentationskurve verdeutlicht werden, so dass sich jede*r Mitarbeiter*in des interdisziplinären Teams über die Anfalls-Situation informieren und die für seine Berufsgruppe notwendigen klinischen Entscheidungen mit den Patient*innen treffen kann.
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