Diese Verbindung zwischen Seele und Körper soll der Ansatzpunkt für diesen Leitfaden zur beruflichen Wiedereingliederung sein. Auch bei scheinbar unumstösslichen medizinischen Diagnosen gibt es einige Möglichkeiten für Arbeitgeber, die Rückkehr in den Arbeitsprozess von erkrankten Mitarbeitenden zu erleichtern, so dass Know-how erhalten und Störungen
in bewährten Arbeitsabläufen vermieden werden können; damit kann auch die Qualität von Produkten oder Dienstleistungen gesichert, Kostensteigerungen vermieden und die Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit erhalten werden.
Eine (betriebliche Leistungs-)Kette ist immer nur so stark wie ihr schwächstes Glied: Ein krankgeschriebener Mitarbeiter weist also erst einmal darauf hin, dass die Aufgaben an einem Arbeitsplatz wenig Befriedigungspotential bieten und sich mit hohen Anforderungen
zu einem krankmachenden Wirkungsgefüge vereinigen. Dabei sind "hohe Anforderungen" nicht gleichbedeutend mit hoher Qualifikation, sondern häufiger hohe Anforderungen an Konzentration, Genauigkeit oder Eingehen auf Kundenwünsche wie beispielsweise bei der Fertigungskontrolle oder bei telefonischen Auskunftsdiensten, wo pro Minute durchschnittlich drei Anrufe beantwortet werden. Das sind in einer normalen 8-Stunden-Schicht über 1'000 Anrufe.
Traue (1998, p. 129ff) konnte in seinen Forschungsarbeiten für verschiedene Krankheitsbilder nachweisen, dass schweren körperlichen Erkrankungen jahrelange negative Gefühlszustände vorausgehen, Gefühle von Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit. Unbewältigte Verlusterfahrungen beispielsweise erhöhen massiv das Risiko von Herz-Kreislauf- oder Krebserkrankungen. Diese Verlusterfahrungen müssen auch nicht so existentiell sein wie der Verlust enger FreundInnen oder Familienmitglieder. Die stetige Wiederkehr täglicher kleiner Ärgernisse – in der Forschung als "little hazzles" bezeichnet – erhöht das Risiko seelischer und körperlicher Erkrankungen ebenso sehr. Dazu kann auch die als schleichende Dequalifizierung erlebte Veränderung von Tätigkeiten erlebt werden, wenn durch immer mehr Arbeitsvorgaben und Vorschriften der Tätigkeitsspielraum eingeschränkt wird. Angefangen bei den Gesundheitsberufen, wo es zu immer mehr häufigen Diagnosen genaue Empfehlungen zur leitliniengerechten Behandlung gibt. Aber was tun, wenn eine Patientin damit nicht einverstanden ist, sie nicht an die Wirksamkeit der vorgeschlagenen, wissenschaftlich begründeten Behandlung glaubt?
Dieser Leitfaden soll also dazu ermuntern, miese Stimmung und negative Gefühle ernst zu nehmen – auch wenn das auf den ersten Blick eine denkbar unangenehme Aufgabe für Führungskräfte und Personalverantwortliche ist. Aber vielleicht können Sie das auch als Herausforderung nehmen, Ihren Einfallsreichtum zu nutzen und in scheinbar unauflöslich schwierigen Situationen den Funken schlagen, der das schwere Dunkel erhellt? Der Lohn dafür ist, dass Sie von unerwarteten, kritischen Personalsituationen nicht mehr überrascht werden. Stattdessen sind Sie innerlich bereits gut vorbereitet, und haben im besten Fall auch schon einen Plan B bereit (Weick & Sutcliffe, 2010 2).
Auf keinen Fall sollten Sie dieses Manuskript so verstehen, dass hier die perfekte Lösung vorgestellt wird, der Sie sich unterwerfen müssen, wenn Sie erfolgreich sein wollen! Verwenden Sie das Buch als Steinbruch, wo Sie umherschlendern und sich das mitnehmen, was Ihnen gefällt, zu Ihren persönlichen Vorlieben und Stärken passt und den Rahmenbedingungen, unter denen Sie arbeiten und leben.
Dieser Leitfaden zur Früherkennung von gesundheitsgefährdeten Mitarbeitenden richtet sich ebenso an Führungskräfte wie an Personalverantwortliche auf allen Stufen der Hierarchie in einer Organisation und soll allen Beteiligten helfen, eine nicht immer einfache Situation möglichst einfach und gut zusammen zu meistern. Sie sollen Hinweise dafür finden, wo und wann ein genaues Hinschauen, Nachfragen und vielleicht sogar entsprechendes Handeln angezeigt ist.
Dieser Leitfaden für den Umgang mit krankheitsgefährdeten Mitarbeitenden bezieht sich bewusst nicht auf die Vielzahl rechtlicher Regelungen zum betrieblichen Eingliederungsmanagement in Sozialgesetzbüchern, Betriebs- oder Tarifvereinbarungen oder auf Finessen der medizinischen Diagnostik, mit deren Hilfe bestimmte Krankheitsbilder aus dem Leistungskatalog der Sozialversicherungen ausgeschlossen werden. Dieses kleine Handbuch soll helfen, gesundheitsgefährdete Mitarbeitende sehr früh aufgrund von Informationen zu erkennen, die in einer Organisation normalerweise vorhanden sind und deren Auffinden eigentlich auch keinen grossen zusätzlichen Aufwand verursachen sollte. Die intelligente Verknüpfung und Integration von harten und weichen Daten – Arbeits- und Fehlzeiten sowie Beobachtungsdaten aus dem Arbeitsalltag – kann unnötiges Leiden bei den Mitarbeitenden vermeiden, und im besten Fall deren Selbstheilungskräfte anregen - und nicht zuletzt unnötige Kosten sparen, sowohl betriebs- als auch volkswirtschaftliche.
2 Gesundheitsgefährdungen erkennen:
Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?
Selten tritt eine schwere Erkrankung von einem Tag auf den anderen auf, wie vom heiteren Himmel herabgefallen. Meist sind Erkrankungen schon lange vorher zu erkennen, häufig aber nicht mit medizinischen Vorsorgeuntersuchungen, sondern mit einer systematischen Auswertung von Fehlzeitendaten und Beobachtungen.
Auf gar keinen Fall soll dieser Leitfaden so verstanden werden, dass alle Mitarbeitenden,
die Zeichen einer Gesundheitsgefährdung haben, entlassen werden. Das hatten die Berliner Verkehrsbetriebe vor 100 Jahren bereits in der Unfallprävention versucht. Einige Monate sind die Unfallzahlen bei den Strassenbahnfahrern tatsächlich gesunken. Interessanterweise entwickelten sich aber im Verlauf der Zeit bisher unauffällige Strassenbahnfahrer zu "Unfallfahrern", so dass nach zwei bis drei Jahren die Unfallzahlen wieder genauso hoch waren wie ursprünglich.
Die hier beschriebenen Hinweise sollen dazu dienen genauer hinzuschauen, und bieten damit auch Chancen zur Verbesserung bisheriger betrieblicher Abläufe.
Die Risikoindikatoren sind immer ein Zeichen dafür, dass die Qualifikation eines Mitarbeitenden nicht zu den Anforderungen der Aufgabe passt. Damit ergeben sich aber gleichzeitig auch Chancen, die Arbeit so zu gestalten, dass menschlichen Bedürfnisse mehr beachtet und gleichzeitig Betriebsabläufe verbessert werden.
Ein erhöhtes Risiko für längere Erkrankungen haben Mitarbeitende mit
mehr als 3 Kurzabsenzen pro Jahr oder
mehr als 2 Arztzeugnissen pro Jahr oder
mehr als 3 Wochen krankheits- oder unfallbedingte Abwesenheiten am Arbeitsplatz.
Wie so häufig in der Medizin sind diese Erkenntnisse nicht das Ergebnis gezielter Experimente oder Studien, sondern eher ein Zufallsbefund. Ursprüngliches Ziel dieser Whitehall-Studien Ende der 70-er Jahre des letzten Jahrhunderts in Grossbritannien war es, im Rahmen einer Langzeitstudie die Risikofaktoren für Herz-Kreislauferkrankungen zu ermitteln. Dafür wurden eine Vielzahl medizinischer und psychologischer Variablen erhoben, von der Familiengeschichte, der Herzfrequenz, dem Blutdruck und den Stresshormonen über psychologische Variablen wie Arbeitszufriedenheit und Lebensstile. Die Analyse der Daten konnte kaum eine der ursprünglichen wissenschaftlichen Annahmen bestätigen. Weder gab es geradlinige Beziehungen zwischen Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht und Salz- oder Alkoholkonsum, noch eindeutige Zusammenhänge zwischen medizinischen Messgrössen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
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