»Das ist reizend von Ihnen, vielen Dank, aber so kurz vor dem Mittagessen …«
Die Erzählung Herrn von Hübners von der eindeutig provozierten Beschädigung seines Autos am Vortag war sehr anschaulich durch blumige Ausschmückungen. Insbesondere das vulgäre Benehmen des bulligen Fahrers – »Silberkette und Gefängnishaarschnitt« – schilderte er mit köstlichem Humor. Er zeigte sich dabei keineswegs beunruhigt, nahm es eher als einen Ganovenstreich von Leuten, mit denen er sich eigentlich nicht abzugeben pflege oder gemeinmachen wolle, aber ganz durchgehen lassen könne man so etwas natürlich auch nicht. Graber versuchte, sich die Szene vorzustellen, war sich aber nicht sicher, ob er an seiner Stelle nicht in panische Angst geraten wäre. Aber dann interessierte ihn vor allem, wer dahinterstecken könnte. Wenn es keine persönlichen Feinde gab, wie Herr von Hübner versicherte, müsse man vielleicht an einen terroristischen Hintergrund denken. Indem er es aussprach, erschrak Graber sogleich, dass er selbst ein so abgedroschenes Vorurteil, wie es sich nur die Boulevardpresse ausdenken konnte, ins Gespräch brachte. Er bekam auch sogleich eine Abfuhr:
»Unsinn. Entschuldigen Sie, das halte ich für gänzlich abwegig. Das hieße nur, ein Schreckgespenst an die Wand zu malen.«
Graber lachte etwas gekünstelt auf, um seine Bemerkung selbst damit als Scherz zu entwerten.
»Sie haben völlig recht, diese Art Terrorismus gibt es bei uns zum Glück nicht. Wir leben doch in einer ziemlich friedlichen Ecke und nicht in Moskau.«
Noch so ein pauschales Vorurteil, das ihm da rausgerutscht war. Graber nahm sich vor, sich besser zu kontrollieren.
»Sehen Sie, ich will mich damit nicht weiter ins Gespräch bringen. Und deshalb will ich auch nicht die Polizei einschalten. Wenn die das nämlich richtig ernst nähme, und das müsste sie doch wohl, dann ginge das womöglich los mit verstärkter Bewachung und Personenschutz und ähnlichen Vorstellungen. Dann würde ständig eine Polizeistreife da oben, wo ich wohne, herumspazieren und das ganze Umfeld aufgeschreckt werden. Unter Umständen gäbe es sogar einen Artikel in der Zeitung. Nein, danke. Das möchte ich niemandem von meinen Nachbarn zumuten, mir selbst auch nicht.«
»Sie wohnen am Lorettoberg?«
»Ja, kennen Sie die Gegend?«
»Nein, nicht so genau.«
»Es ist sehr ruhig da oben. Ziemlich alte Villen in großen Grundstücken. Und es wohnen auch hauptsächlich ältere Herrschaften dort, Rentner und Pensionäre. Ein sehr seriöser Umkreis. Im Allgemeinen wenigstens. Mein neuer Nachbar wird sich da hoffentlich gut einfügen.«
»Darf ich fragen, wer das ist?«
»Ach, wie heißt er noch? Fällt mir im Moment nicht ein. Dieser bekannte Hamburger Modeunternehmer. Von dem haben Sie sicher schon gehört. Er hat gerade sein Unternehmen verkauft und will sich jetzt hierher zurückziehen. In der Presse wurde über ihn und seine legendären Feste und Partys immer sehr spektakulär berichtet. Ein richtiger Sonnyboy. Da kam immer die ganze High Society, die Stars und die Sternchen und aufregende Models natürlich und der ganze Regenbogenverein. Aber das wird ja nun vorbei sein. Eine solche Gesellschaft haben wir ja hier gar nicht. Zum Glück.«
»Und so jemand will sich nun hier ansiedeln?«
»Er ist schon da. Ich habe aber wenig von ihm bemerkt, an seinem Haus wurde lange renoviert, eine recht große, alte Villa. Er soll eine umfangreiche Kunstsammlung haben, moderne Kunst. Platz genug wird dort sein. Allein der Eingangsbereich mit einem riesigen Treppenhaus, – da lässt sich einiges unterbringen. Eine schöne Altersresidenz. Wissen Sie, dies ist eine beliebte Gegend. Das beste Wetter von ganz Deutschland, wenigstens das wärmste. Hervorragende Restaurants, gute Weine. Die Nähe zu Frankreich und der Schweiz. Hier haben sich schon immer vermögende Pensionäre gerne zur Ruhe gesetzt. Und um auf unsere Geschichte zurückzukommen: Mir liegt daran, dass es bei uns dort oben so ruhig bleibt. Deshalb möchte ich auch kein großes Aufheben machen.«
Die Frage blieb freilich im Raum und es dauerte recht lange, bis Graber sie beantwortet bekam, weil er sich nicht traute, sie direkt zu stellen: was er als Anwalt denn nun eigentlich dabei tun könne. Es lief darauf hinaus, die Sache mit der Versicherung zu regeln. Graber wagte nicht einzuwenden, dass dies vermutlich nur bedeute, den Schaden zu melden und bestenfalls einige Nachfragen zu beantworten. Gewiss, ein hochvermögender Wirtschaftsanwalt schlägt sich nicht gerne mit Versicherungen herum, das war Kleinkram, den man andere erledigen ließ. Und so fragte er zunächst nur, wie er denn auf ihn gekommen sei.
»Sie wurden mir von einem Kollegen aus der Anwaltskammer genannt. Ich fragte nach einem jungen, handsamen Anwalt, der auf dem Quivive ist, auch Strafsachen bearbeitet und noch nicht überlastet ist.«
Graber wunderte sich über die Ausdrucksweise. Vor allem das Wort »handsam« überraschte ihn, es konnte nur so etwas wie »zahm« bedeuten. Aber doch sicher nicht gegenüber der Versicherung? Da müsste er allerdings »auf dem Quivive« sein. Also »handsam« gegenüber Herrn von Hübner? Oder anders gesagt, er solle nach seiner Pfeife tanzen? Und dazu hatte man ausgerechnet ihn empfohlen? Einen Augenblick überlegte er, ob er diesen ohnehin lächerlichen Auftrag nicht ablehnen sollte. Andererseits konnte der Kontakt zu einem offenbar so bekannten und einflussreichen Herrn nur von Nutzen sein. Wofür auch immer, das ließ sich noch nicht absehen. Und so gab er sich »handsam« und wartete ab, was weiter gemeint war.
Mit einiger Umständlichkeit schälte sich heraus, dass er zunächst bei der Straßenverkehrsbehörde herausbekommen solle, – als Strafverteidiger habe man doch gewiss Kontakte dorthin (eine merkwürdige Unterstellung) –, wer hier oder in der näheren Umgebung ein solch ungewöhnliches Fahrzeug fahre. Er selbst kenne sich mit Autofabrikaten nicht aus. Er malte auf einem der leeren Notizzettel, die auf dem Schreibtisch lagen, ein Gebilde, das wie das Zeichen der Londoner U-Bahn aussah, und schrieb »Pat…« dazu. Ob dann ein Strafantrag gestellt werden solle, müsse man sehen, je nachdem. (Was solche Herren sich nur vorstellen, er ist doch kein Detektivbüro.) Graber blickte etwas verlegen auf die ungelenke Zeichnung vor ihm, ließ sich das schwarze Auto noch einmal genauer beschreiben und meinte dann lakonisch:
»Ein Nissan Patrol.«
Der alte Herr sah ihn bewundernd an, lachte vergnügt auf und rief:
»Großartig! Sie kennen sich offenbar bestens in dieser Szene aus. Sie sind der richtige Mann für mich.«
Ob er Graber damit als einen Anwalt solch düsterer Gestalten wie der an seinem Überfall beteiligten identifiziert haben wollte, blieb unklar. Meinte er etwa, unter seinen Klienten könnten diese beiden zu finden sein? Wollte er ihn gar nur ausforschen? Graber wurde zunehmend etwas misstrauisch, worum es eigentlich ging, verscheuchte diese Gedanken aber wieder, als der Ehrfurcht gebietende Kollege unbekümmert fortfuhr, es könne sein, dass er mit der Zeit noch einige Aufträge mehr für ihn habe. Mit Alltagsdingen habe er keinerlei Erfahrung. (Was waren denn juristische Alltagsdinge?) Er brauche einen versierten Allrounder und wolle es gerne mit ihm, Graber, versuchen. (Ein etwas seltsames Mandat, aber, na schön.)
Unter diesen Umständen das Beste war freilich, dass Herr von Hübner erklärte, nun gerne eine Kleinigkeit essen zu wollen, und fragte, ob Graber ihn nicht begleiten wolle. Vielleicht habe er ja auch eine Idee, wo man hier in der Nähe hingehen könne. Graber vermutete, dass dies auf eine Einladung hinausliefe und überlegte kurz, bevor er den Vorschlag machte, die Osteria Oporto aufzusuchen. Er war sich sicher, dass dort um diese Zeit vor allem Anwaltskollegen verkehrten. Und mit Herrn von Hübner zusammen dort gesehen zu werden, machte sich sicher nicht schlecht fürs Renommee.
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