Schwankend richtete Pawel sich auf. Er war so schwach, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte, dabei war er zu Beginn der Lagerhaft einer der Kräftigsten gewesen. Nun schlotterte der Drillich um seinen ausgezehrten Körper. Auch wenn er die etwa achtzig Gefangenen warnen würde, die in der Baracke zusammengepfercht waren, was sollten sie unternehmen, unbewaffnet und all ihrer Energie beraubt? Nur ein Wunder konnte sie retten, und seinen Glauben an das Eingreifen Gottes hatte Pawel längst verloren.
Er rutschte kraftlos an der Bretterwand herab und verharrte in der Dunkelheit. Als der neue Morgen graute, kauerte er noch immer unter dem Fenster, gelähmt von der Hilflosigkeit und dem schrecklichen Konflikt, der in ihm tobte. Sollte er den anderen mitteilen, was er wusste? Oder war es besser, sie ahnten nichts, weil sie ohnehin sterben würden?
Motorenlärm riss ihn bald darauf aus seiner Starre. Bolkow stieß die Tür auf und betrat in Begleitung mehrerer Männer in Wehrmachtsuniformen die Baracke.
»Alle Mann raus und antreten!«, brüllte er.
Etwa ein Drittel der Häftlinge war zu schwach, um aufzustehen. Die SS prügelte sie aus den improvisierten Schlafstellen und trieb sie nach draußen. Auf dem Appellplatz standen mehrere Laster und Fuhrwerke. Die Wachmannschaften aus Sachsenhausen hatten Verstärkung durch Wehrmacht und Volkssturm bekommen, überall patrouillierten SS-Männer mit Schäferhunden.
Wer nicht mehr laufen konnte, wurde von den Soldaten wie Vieh auf die Fahrzeuge verladen. Türen wurden zugeworfen, Motoren dröhnten auf. Pawel bewegte sich mechanisch wie eine Maschine.
Während des etwa einstündigen Marsches versuchten erneut mehrere Häftlinge zu fliehen. Zwei Männern gelang die Flucht in den nahen Wald. Die, die es nicht schafften und von den Kugeln der SS durchsiebt wurden, zählte er nicht. Bolkow wich nicht von seiner Seite, aber Pawel wäre ohnehin nicht geflohen. Lieber ging er mit seiner Schwester und seinem Vater in den Tod, als sie im Stich zu lassen.
Der Wald lichtete sich und machte einer weiten Ebene Platz. Inmitten brachliegender Felder erhob sich eine große Scheune aus roh behauenen Brettern mit einem Wellblechdach. Männer des Volkssturms klappten die Seitenteile der offenen Laster herunter und trieben die Menschen mit Knüppeln von den Ladeflächen.
Endlich entdeckte Pawel seine Schwester. »Milena!«, rief er, »Milena! Ich bin hier!«
Sie stand neben einem Pferdefuhrwerk und half einer alten Frau herunter, hörte ihn aber nicht. Theissen beobachtete die Szene und schnalzte ungeduldig mit der Zunge.
Pawel löste sich aus der Menge und hinkte auf Milena zu. Bolkow fluchte und riss ihn zurück. Pawel versetzte dem Kapo einen kraftlosen Schlag, den dieser gar nicht zu bemerken schien.
»Milena!«
Ihre Blicke trafen sich in dem Augenblick, als Theissen seine Waffe zog und ihr in den Kopf schoss. Die zweite Kugel traf die am Boden liegende alte Frau. Pawel schrie schmerzerfüllt auf. Er wollte zu seiner Schwester, doch Bolkow hielt ihn fest, zerrte ihn herum und schlug ihm ins Gesicht. Theissen sah kurz auf und wandte sich gleichgültig ab.
Die Wachen trieben etwa zweihundert Menschen in die Scheune; Männer und Frauen, Junge und Alte. Pawel bewegte sich betäubt und willenlos inmitten der Menge. Ohne Unterlass sah er Theissen, der Milena die Pistole an den Kopf hielt und abdrückte.
»Pawel!«
Jemand rief seinen Namen.
»Pawel, du bist es!«
Ein dürrer alter Mann schob sich zwischen den dicht gedrängt stehenden Menschen hindurch und kam auf ihn zu. Entsetzt erkannte Pawel in der gealterten Gestalt seinen Vater. Die bartstoppeligen Wangen waren eingefallen, die einstmals wachen, regen Augen stumpf und trüb.
Er breitete die Arme aus und drückte den Alten an sich. Eine Weile standen sie eng aneinandergepresst stumm im Halbdunkel der Scheune.
»Milena ist tot!«, sagte Pawel mit erstickter Stimme.
Josef nickte. Er weinte.
Unvermittelt kam Bewegung in die Menge. Eine Frau kreischte entsetzt auf. Vor dem hellen Rechteck des Himmels zeichneten sich scharf wie Scherenschnitte die Silhouetten von vier mit Maschinenpistolen bewaffneten Gestalten ab. Männer des Volkssturms schleppten Kanister herbei und bespritzten die vorne Stehenden mit Benzin. Die Menge wich panisch zurück. Pawel verlor durch seinen Vater, der sich an ihn klammerte, das Gleichgewicht und stolperte. Der Sturz rettete ihm das Leben, denn in diesem Moment eröffnete die SS das Feuer. Ein lebloser Körper begrub Pawel unter sich, dann noch einer. Das Knattern der automatischen Waffen hielt etwa dreißig Sekunden an, danach herrschte Totenstille. Sein Vater grub die Finger in Pawels Ärmel und drückte so fest zu, dass Pawel einen Schrei unterdrücken musste. Er konnte nicht sehen, was nun geschah, begriff aber, dass das Wunder, an das er nicht geglaubt hatte, eingetreten war. Sie lebten.
Jemand stöhnte, worauf ein kurzer Feuerstoß folgte, dann war es still. Pawel hörte ein leises Plätschern. Panik ergriff ihn. Ihm wurde klar, dass er nur überlebt hatte, um qualvoll bei lebendigem Leib zu verbrennen.
Ein machtvolles Fauchen fuhr über die Leichen hinweg, gefolgt von einer Hitzewelle, die Pawel den Atem raubte. Die SS-Mannschaften schlossen die Scheunentore und sperrten das Tageslicht aus, blutrote Höllenglut loderte auf.
Pawel tätschelte die Wangen seines Vaters. Der schlug die Augen auf und verzog vor Schmerz das Gesicht.
»Mein Bein«, krächzte er, »mein Bein.«
Pawel zwängte sich zwischen den Toten hindurch. Er selbst war unverletzt, aber das linke Hosenbein seines Vaters war vom Knie abwärts voller Blut.
Die Feuerwalze raste unerbittlich auf ihn zu, der dichte Qualm nahm ihm die Sicht. Es stank bestialisch nach verbranntem Fleisch. Er hustete und würgte und suchte die Umgebung nach einem Fluchtweg ab.
Die Scheune bestand aus einer hölzernen Fachwerkkonstruktion mit senkrechten Schalungsbrettern, Wellblechplatten bildeten das Dach. Das Gebäude würde binnen Minuten lichterloh brennen. Pawel tastete die Rückwand ab und schob mehrere Strohballen zur Seite, um zu sehen, was sich dahinter verbarg. Er bemerkte, dass auch andere das Massaker überlebt hatten. Verzweifelt versuchten sie, mit Kleidungsstücken das Feuer auszuschlagen.
In der Rückwand entdeckte er zwei Bretter, deren untere Enden abgefault waren. Tageslicht schimmerte durch die Ritzen. Pawel legte sich auf den Rücken und begann, mit den Füßen auf das morsche Holz einzutreten. Die Flammen leckten bereits an den Holzstützen empor, das Atmen fiel ihm mit jedem Zug schwerer. Er hoffte, dass die Mörder sich aus Angst vor dem Feuer von der Scheune fernhielten. Wenn sie die Rückseite bewachten, waren er und sein Vater verloren.
Allmählich gaben die Bretter nach, Stücke verfaulten Holzes flogen davon. Endlich war das Loch groß genug, um ins Freie kriechen zu können.
Der Waldrand lag etwa hundert Schritte entfernt, weder SS noch die Männer des Volkssturms waren zu sehen. Er fragte sich, warum sie bei der Mordaktion mitmachten. Entweder hatte man sie dazu gezwungen oder sie waren genauso fanatisch wie die Teufel in den schwarzen Uniformen.
Sein Vater war kaum bei Bewusstsein. Pawel schob seine Arme unter die Achseln des alten Mannes und zog ihn an die Scheunenwand. Er kroch ins Freie, drehte sich um und zerrte ihn nach draußen.
Die Scheune brannte inzwischen wie eine riesige Fackel, im Inneren konnte niemand mehr am Leben sein. Beißender schwarzer Qualm drang durch die Ritzen und Spalten, selbst in einiger Entfernung war die Hitze unerträglich. Pawel rüttelte seinen Vater an der Schulter. Der Alte hustete und schlug die Augen auf.
»Komm!«
Pawel half ihm auf und stützte ihn. Er machte sich Sorgen wegen der Schusswunde und des Blutverlusts. »Wenn wir den Wald erreichen, sind wir in Sicherheit«, keuchte er.
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