Pawel straffte sich und stand auf. Er hatte getan, was er tun musste. Mitschke war ein Sühneopfer gewesen, das war ihm nun klar. Sein Vater hatte ihm den Weg aufgezeigt, den er gehen musste. Ein Weg, der viele Opfer verlangte und noch lange nicht zu Ende war. Doch am Ziel würde sich das Versprechen, das er gegeben hatte, auf eine Weise erfüllen, die der alte Mann in seiner Weisheit vorausgesehen hatte: Die Seele seines Sohnes würde Frieden finden. Es war eine bittere Medizin, aber die einzige, die Heilung versprach. Ja, er hatte versprochen, Rache zu nehmen, und Versprechen durfte man nicht brechen.
Schweigend sah er zu, wie die Nacht dem Morgen wich. Je heller es wurde, desto mehr verblassten die Bilder von Blut und Gewalt. Die Schatten wurden kürzer und Pawel gelang es, seine Tat zunehmend in einem anderen Licht zu bewerten. Er war kein Mörder. Nein, das Versprechen hatte ihn zum Richter und Henker in einer Person gemacht. Das Schicksal hatte ihm eine große Verantwortung aufgebürdet und er würde diese schwere Aufgabe erfüllen. Mitschke war erst der Anfang. Sein Vater konnte stolz auf ihn sein.
Als einer der Ersten reihte Pawel sich am frühen Morgen in die Schlange vor der Notunterkunft ein und versorgte sich mit der kargen Essensration. Bis zum Nachmittag drückte er sich vor dem Bahnhof herum, schlug die Zeit tot und kaufte eine Fahrkarte nach Frankfurt. Dort angekommen, fragte er sich zu der Adresse durch, die Esther ihm genannt hatte. Von den Passanten, die er nach dem Weg fragte, erfuhr er, dass sich im Baumweg Nummer 5 die Mitglieder der zu neuem Leben erwachten jüdischen Gemeinde in Frankfurt trafen.
Gegen 18 Uhr kam er im Baumweg an, verbarg sich in einer Ruine auf der anderen Straßenseite und beobachtete das Haus mit dem abgerundeten Dach und dem hellen Putz. In Sachsenhausen hatte er lernen müssen, sein Temperament zu zügeln und sich in Geduld zu üben. Er war sicher, dass er die Lagerhaft überlebt hatte, weil er die Menschen, mit denen er zu tun bekam, richtig einschätzen konnte.
Esther hatte ihn zwar aufgefordert hierherzukommen, aber noch wusste er nicht, was sie damit beabsichtigte. Wegen ihrer natürlichen Autorität hielt Pawel sie für eine Art Wortführerin. Bevor er die Hierarchie dieser Gruppe jedoch nicht durchschaut hatte, galt es, vorsichtig zu sein.
Leute kamen und gingen, von Esther entdeckte er keine Spur. Als die Dämmerung einsetzte und er sich entschloss, sein Glück zu versuchen, trat ein kräftig gebauter Mann in blau-grauer Arbeitskleidung aus einem Schuppen neben dem Haus. Er rückte seine Schiebermütze zurecht, zündete sich eine Zigarette an und schlenderte pfeifend die Straße entlang, bis Pawel ihn aus den Augen verlor. Sein Magen krampfte sich vor Wut und Empörung zusammen. Der Mann war Bolkow! Gehörte er zu Esthers Freunden? Wenn es so war, dann wussten sie sicher nicht, dass sie einen ehemaligen KZ-Kapo unter ihrem Dach duldeten. Immerhin hatten sie ihn, Pawel, sofort als einen der ihren akzeptiert, nachdem er ihnen die eintätowierte Häftlingsnummer auf seinem Unterarm gezeigt hatte. Bolkow hatte es schon in Sachsenhausen verstanden, sich stets auf die Seite der Gewinner zu schlagen. Ob er die jüdische Gemeinde als Tarnung benutzte, um seine unrühmliche Rolle im Konzentrationslager zu vertuschen?
Rasch überquerte Pawel die Straße und betrat das Grundstück durch eine niedrige Pforte. Die Eingangstür stand offen. Über einen Korridor gelangte er in einen geräumigen Saal. Gerüste, aufgestapelte Ziegelsteine und Zementsäcke zeugten von reger Bautätigkeit. Ein schmächtiger alter Mann, der sich auf einen Gehstock stützte, studierte einen Bauplan. Er sah auf, als er Pawels Schritte hörte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er mit leiser Stimme.
»Ich bin ein Freund von Esther. Sie sagte, ich könne sie hier treffen.«
Der Alte nickte freundlich. »Kommen Sie bitte mit.«
Er führte Pawel in den ersten Stock des Hauses. Arbeiter waren damit beschäftigt, Wände zu verputzen und Decken zu streichen.
»Esther? Hier ist Besuch für dich!«, rief der Alte.
Pawel erkannte sie sofort wieder. Im hellen Licht einer nackten Glühbirne, die von der Decke baumelte, sah sie sehr viel jünger aus, als er sie in Erinnerung hatte. Sie hatte das rotblonde Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug Arbeitskleidung.
»Danke, Isaak.«
Der alte Mann lächelte Pawel freundlich zu und ließ sie allein. Esther stellte den Besen an die Wand, mit dem sie den Boden gefegt hatte.
»Du bist also gekommen.«
Pawel nickte. »Ich habe lange gezögert. Deine Freunde sehen mich hier sicher nicht gern. Aber ich war neugierig und wollte dich wiedersehen.«
»Sie waren sauer, weil du uns die Tour vermasselt hast. So konnten sie dir wenigstens die Schuld am Scheitern unserer Aktion in die Schuhe schieben. Ari und Jaron haben das Herz am rechten Fleck, doch besonders mutig sind sie nicht gerade. Es fehlt ihnen an Entschlossenheit. Sie brauchen jemanden, der ihnen sagt, wo es langgeht.«
Pawel verarbeitete des Gehörte sofort, er hatte sich also in seiner schnellen Einschätzung nicht getäuscht.
»Aktion?«, fragte er neugierig.
»Eins nach dem anderen. Hast du heute schon etwas gegessen?«
»Nicht viel.«
»Dann komm mal mit.«
Sie führte ihn in einen Teil des Hauses, der bereits fertiggestellt war, einen Aufenthaltsraum mit Sofas, Sesseln und Tischen. Auf einer Kochplatte stand ein Topf, aus dem es herrlich duftete. Pawels Magen knurrte vernehmlich, seit der Notration am Morgen hatte er nichts mehr zu sich genommen. Esther füllte einen Teller, brach ein Stück Brot von einem Laib und reichte ihm beides. Er spürte, wie ausgehungert er war, und bemühte sich, nicht allzu gierig zu essen. Esther zündete sich eine Zigarette an und sah ihm zu.
»Du bist also Pawel Kowna aus Warschau«, sagte sie.
Er nickte mit vollem Mund. »Du hast mich gestern schon nach meinem Namen gefragt.«
»Wie ist es denn so in Warschau?«
Sie fragte ihn nach der Stadt aus, offenbar wollte sie herausfinden, ob er wirklich von dort stammte, oder ob er sie belog. Pawel bemühte sich, die wenigen Erinnerungen heraufzubeschwören, die er aus frühen Kindertagen bewahrt hatte. »Stimmt etwas nicht mit mir?«, fragte er.
Sie lachte. »Schon in Ordnung. Du musst wissen, dass wir sehr vorsichtig sind. Der Krieg ist vorbei, aber die Nazis sind noch da, auch wenn sie ihre Uniformen ausgezogen haben. Typen wie Mitschke sind wieder obenauf.«
»Was wolltet ihr denn vergangene Nacht dort?«, fragte er.
Esther bot ihm eine Zigarette an, die er dankbar annahm.
»Das Gleiche wie du, schätze ich. Ihm einen Denkzettel verpassen. Doch du bist uns zuvorgekommen und hast Gomulka aufgescheucht. Du hast großes Glück gehabt, dass wir dich in Sicherheit gebracht haben. Er hätte die Hunde auf dich gehetzt und sich daran erfreut, wie sie dich in Stücke reißen.«
»Ich glaube, der war bei der SS, genau wie Mitschke«, überlegte Pawel. »Seine Augen sind so kalt und glatt wie Flusskiesel.«
»Davon kannst du ausgehen. Sie sind unter uns, überall.«
»Man sagt, die Amerikaner wollen die Verfolgung von Kriegsverbrechern fortan den Deutschen überlassen«, sagte er.
Esther zog hastig an ihrer Zigarette. »Habe ich auch gehört. Dann wird überhaupt nichts mehr passieren. Das bedeutet, dass die Täter sich selbst bestrafen sollen. Ich hasse die Deutschen.« Sie zerdrückte die Kippe im Aschenbecher, als wolle sie sie stellvertretend für die Nazis zerquetschen. »Ich hatte recht, die ganze Zeit über.«
»Womit?«
Esther wich einer direkten Antwort aus und funkelte ihn aus ihren grau-grünen Augen an. Pawel erschrak, als ihn der unverhohlene Hass darin traf.
»Du hast Mitschke umgebracht«, sagte sie. »Es stand heute Morgen in der Zeitung. Sie schreiben, er habe keinen heilen Knochen mehr im Leib gehabt.«
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