Peter Wicke
Rammstein. 100 Seiten
Reclam
Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:
www.reclam.de/100Seiten
Für Tatjana
2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: zero-media.net
Coverabbildung: FinePic®
Infografik: Infographics Group GmbH
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2019
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961452-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020536-5
www.reclam.de
Wenn ihr ohne Sünde lebt
Einander brav das Händchen gebt
Wenn ihr nicht zur Sonne schielt
Wird für euch ein Lied gespielt
Rammstein, »Ein Lied«
Es ist der 23. Juli 2005. Über die Arènes des Nîmes, ein Amphitheater nach dem Vorbild des römischen Kolosseums aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts im Zentrum der südfranzösischen Stadt, hat sich Dunkelheit gelegt. Die Luft ist von der Sommerhitze des Tages noch immer schwer und stickig. Die Arena ist mit 17 000 meist jungen Leuten in schwarzen T-Shirts bis auf den letzten Platz gefüllt. Den monumentalen Bühnenaufbau verhüllt ein schwarzer Vorhang, den zwei Scheinwerfer an den oberen Ecken beider Seiten der Vorderbühne tastend mit gelblichem Licht überstreichen. Aus dem Boden glimmen blaue Lichtsäulen auf, die sich in dem immer dichter wabernden künstlichen Nebel brechen. Als durch den Vorhang in regelmäßigen Abständen ein verhaltenes »Hol weg« zu hören ist, geht ein Aufschrei der Begeisterung durch das Publikum und fliegen Tausende Arme nach oben. In den ohrenbetäubenden Lärm bohrt sich in anschwellendem Crescendo das von Schlagzeug und Keyboard vorangetriebene stoische »Hol weg« des Intros von »Reise, Reise«, bis der Vorhang schließlich auf den Bühnenboden fällt und zu den nun unisono einsetzenden infernalisch dröhnenden E-Gitarren die Bühne von allen Seiten explosionsartig in gleißendes Licht getaucht wird. Während der Song mit schneidenden Gitarrenriffs und stampfendem Rhythmus Fahrt aufnimmt, öffnet sich ein Tor unter dem Schlagzeugpodest und der Frontmann der Band Rammstein, Till Lindemann, marschiert im Stechschritt auf die Bühne, reißt mit beiden Händen den Kopf von der Seite nach vorn, so als sei er seinem Körper nur lose aufgesetzt, und beginnt die Seemanns-Metaphern des Songs Zeile für Zeile mit testosterongeschwängerter Stimme und unheilvoll rollendem »R« ins Publikum zu schleudern.
Die sechs bösen Buben der deutschen Rockmusik, die Gesichter fahl geschminkt, sind ihrem Ruf entsprechend stilvoll in ein martialisches Outfit gekleidet: Gitarrist Paul Landers mit nacktem Oberkörper in Trachtenlederhose und Tirolerhut, Keyboarder Christian »Flake« Lorenz mit Stahlhelm und schwarz getönter UV-Brille, Leadgitarrist Richard Zven Kruspe und Bassgitarrist Oliver Riedel in militanter Lederkleidung und Schnürstiefeln, Schlagzeuger Christoph »Doom« Schneider in Netzhemd und Lederbreeches und Frontmann Till Lindemann im düsteren Gothic-Look.
Mit unbeschreiblicher Intensität wird in den nächsten 100 Minuten eine hochprofessionelle Show aus Musik, Feuer und Licht über das Publikum hinwegrollen, das, obwohl durchweg französischsprachig, mit nachgerade religiöser Inbrunst jedes einzelne Wort der Songs mitsingt. Die Band, die wie stets keine Provokation auslässt, fügt sich mit ihren archaischen Bildstereotypen und den atavistischen Klangmustern nahtlos in das Jahrtausende alte Ambiente ein, das einst Gladiatorenkämpfen diente.
Im Ausland ist Rammstein umjubelt, wie es keine andere deutsche Band je war, und das obwohl sie ihre Songs stets in deutscher und damit in einer für das Publikum in der Regel unverständlichen Sprache singen.
Selbst ein Asteroid wurde 2006 von dem französischen Weltraumforscher Jean-Claude Merlin nach ihnen benannt.
Seitdem Rammstein permanent im russischen Radio und Fernsehen zu hören und zu sehen ist, können plötzlich alle Russen ein wenig Deutsch. Die Texte sind klar und emotional und leicht nachzusingen. »Eins – hier kommt die Sonne, zwei – hier kommt die Sonne, drei, vier, fünf, sechs …« so etwas kann sich jeder merken.
Und weil Fremdsprachenkenntnisse heute in Russland zu den großen Tugenden zählen und die Sprachschulen voll sind, wurden die Rammstein-Texte sofort in deren Lehrstoff einbezogen. Der Verlag »Elan« hat in seiner Lehrbuchreihe »Deutschlernen – leicht gemacht« sogar einen Textband herausgegeben mit dem Titel: »Rammstein – Lieder für den Deutschunterricht«. Das Lehrbuch fängt mit dem einfachsten Lied an: »Rammstein – Die Sonne scheint« und endet mit dem kompliziertesten Text, den man am besten auswendig lernt: »Leg mir die Ketten an, der Schmerz ist schön wie nie, ich gehe auf die Knie …«.
Wladimir Kaminer, Bestsellerautor von Werken wie Russendisco oder Militärmusik , in seinem Blog über Rammstein in Russland
In Deutschland dagegen sind sie umstritten, auch dies wie keine andere Band. Nie zuvor landete ein Album zur gleichen Zeit sowohl auf Platz 1 der Charts als auch auf dem Index. Liebe ist für alle da , das sechste Studioalbum von Rammstein, wurde im November 2009 auf Antrag des Bundesfamilienministeriums von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien auf die Indexliste gesetzt, weil die Inhalte der CD »die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit« gefährden würden. Die Band erzwang dann am 31. Mai 2010 vor dem Verwaltungsgericht Köln die Aufhebung der Indizierung und konnte sich so zumindest gegenüber dem Vorwurf der Verbreitung pornografischer Inhalte und jugendgefährdender Gewaltverherrlichung durchsetzen.
Hängen blieb dagegen der Verdacht, dass Rammstein mit ihrer Musik und ihren Shows nationalistischen Positionen und rechtem Gedankengut Vorschub leisten. Die Band hat sich stets mit Vehemenz und zurecht dagegen zur Wehr gesetzt, musste aber dennoch damit leben, dass ihr das Prädikat »protofaschistisch« angehängt wurde und das rollende »R« von Sänger Lindemann als »typisch nazideutsch-martialisch« ( Spiegel ) qualifiziert wurde. Die Wochenzeitschrift Die Zeit befand 1997 gar, dass Till Lindemann »den Sound der blonden Bestie: mitleidlos, knarrend, herrisch« verkörpere. Ulf Poschardt, der heutige Chefredakteur der Zeitschrift Die Welt , schrieb 1999 in der linken Wochenzeitung Jungle World , Rammstein betreibe eine »trivial-postmodernistische Reinkarnation des Völkischen«, die den Boden bereite, »auf dem jugendlichen Lynchmördern das Zu-Tode-Prügeln von ›Nicht-Arischem‹ pop-kulturell geerdet« werde.
»Das einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst. Rammstein unterläuft die totalitaristische Ideologie nicht durch ironische Distanz gegenüber den Ritualen, die sie imitieren, sondern dadurch, daß sie uns direkt mit deren obszöner Körperlichkeit konfrontiert und so ihre Wirksamkeit aufhebt. Also fürchtet euch nicht, genießt Rammstein!«
Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek, als Marxist der Sympathie mit rechtsgerichtetem Gedankengut gewiss unverdächtig, über Rammstein
Und Spiegel online verkündete 2017, dass die Band »die Urszene von Pegida und AfD« verkörpere.
Auslöser solcher Tiraden war das von dem Münchener Film- und Opernregisseur Philip Stölzl produzierte Video zu einer der wenigen Cover-Versionen, die sich im Repertoire der Band befinden. Rammsteins Version von »Stripped« der englischen Synthie-Pop-Band Depeche Mode hatte Stölzl unter Verwendung von Material aus Leni Riefenstahls Monumentalfilm Olympia – Fest der Völker (1938) mit einer ebenso gekonnten wie provokanten Bildmontage versehen. Stölzls Riefenstahl-Verschnitt lässt sich allerdings so einfach nicht als platte Offerte an den Rechtsradikalismus abtun, ungeachtet des mehr als heiklen Tabubruchs angesichts von Ausländerfeindlichkeit und der damals noch frischen Erinnerung an die brennenden Asylunterkünfte in Rostock.
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