Die Menge der Erzählungen ist unüberschaubar. Da ist zunächst eine erstaunliche Vielfalt von Gattungen, die wieder auf verschiedene Substanzen verteilt sind, als ob dem Menschen jedes Material geeignet erschiene, ihm seine Erzählungen anzuvertrauen: Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos, in der Legende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tragödie, dem Drama, der Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild (man denke an die Heilige Ursula von Carpaccio), der Glasmalerei, dem Film, den Comics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch. Außerdem findet man die Erzählung in diesen nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften; die Erzählung beginnt mit der Geschichte der Menschheit; nirgends gibt und gab es jemals ein Volk ohne Erzählung; alle Klassen, alle menschlichen Gruppen besitzen ihre Erzählungen, und häufig werden diese Erzählungen von Menschen unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter Kultur gemeinsam geschätzt: Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur: sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben. (Barthes 1988: 102, Hervorh. i.O.)
Hier wird die anthropologische Bedeutung des Erzählens deutlich: Es dient als Medium individueller wie kollektiver Selbstverständigungsprozesse. Vorstellungen von individuellem Leben und sozialem Zusammenleben, Problemlagen und Problembehandlungen, Denkmodelle und Konzeptualisierungen von Welt finden im Erzählen ihre sprachliche Form, werden damit zugänglich und verhandelbar. Auf dieser erzähltheoretischen bzw. narratologischen Basis kann man den literarischen Text als prominentes Medium des Erzählens verstehen. Literarische Texte erhalten einen spezifischen Stellenwert und sind nicht eine Textart unter vielen.
Für das Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache ermöglicht die Arbeit mit literarischen Texten aus der Perspektive des Erzählens eine Auseinandersetzung mit individuellen wie kollektiven Reflexionsprozessen (vgl. Schiedermair 2014b, Riedner 2017). Wie sich in dem obigen Zitat schon andeutet, wird dabei ein weiter Textbegriffzugrunde gelegt, der z. B. auch Hörspiele, Filme, Video- und Werbeclips umfasst (→ Kap. 11). Der so entwickelte Begriff von Literatur ermöglicht es, eine große Vielfalt an medialen Formaten zu berücksichtigen.
In der Gegenwart sind es weitere, neue Textformate, die unsere Vorstellungen von Literatur herausfordern. Diese besteht schon lange nicht (mehr) nur aus gedruckten und gebundenen Werken einzelner Autor*innen, die von einzelnen Leser*innen still rezipiert werden.
Poetry Slamsetwa können an einem Abend ein großes Publikum erreichen; die Texte werden nicht nur von Einzelnen, sondern auch von Teams verfasst und performt. Mit dem Erfolg von Poetry Slams sind die Mündlichkeit der Literatur, ihr Ereignischarakter und ihre Offenheit für alle Akteur*innen (wieder) in das Blickfeld gerückt.
Die digitale Literatursteht dafür, dass die Grenzen zwischen Autor- und Leserschaft wie auch zwischen „Fiktion und inszenierter Wirklichkeit“ verschwimmen (Winko 2016: 6). Der Begriff der digitalen Literatur bzw. Netzliteratur, Internetliteratur, New Media Literature oder Hyperfiction ist jedoch zu schärfen. Sie ist zunächst von einer digitalisierten Literatur (E-Books, Bibliotheken wie das Projekt Gutenberg ) zu unterscheiden. Deren Lektüre erfolgt am Computer oder einem anderen (mobilen) Endgerät; verändert ist so vor allen Dingen die Rezeption von Texten (→ Kap. 4, 5). Als digitale Literatur hingegen werden Texte bezeichnet, deren Produktion und Rezeption am Computer erfolgt und die im digitalen Format, als zweifacher Text entstehen: dem auf dem Bildschirm sicht- und lesbaren Text und dem ihn bedingenden digitalen Code hinter der Oberfläche (vgl. Winko 2016: 4). Diese Texte sind oder erscheinen in einem weiten Sinn interaktiv: Die Lesenden wählen individuelle Lektürepfade, können z. B. Hyperlinks folgen oder eigene Texte eingeben (vgl. ebd.: 4). Insofern werden z. B. Texte im Hypertextformat (→ Kap. 11) auch als nichtlinearbezeichnet. Auch Netzliteraturist digitale Literatur, spezifisch aber noch einmal dadurch charakterisiert, dass sie „des Internets bedarf, um produziert und rezipiert zu werden“ (ebd.: 5). Sie wird im Internet publiziert und kann, etwa in Form von Schreibforen, Mitschreibprojekten oder literarischen Blogskonzipiert, nicht nur zur Rezeption, sondern auch zur Produktion von Texten durch die Leser*innen anregen (→ Kap. 5). So entstehen beispielsweise Blogromane, aber auch Texte einer sogenannten Fanfiction.
Fragt man also, was Literatur heute– bei aller Schwierigkeit der Definition – sein kann, so stellt sie sich als „ein extrem vielfältiges, dynamisches Ensemble unterschiedlicher medialer Formate und Kommunikationsformen, eine lebendige Praktik, die weit über gedruckte Einzelwerke und vom Feuilleton wahrgenommene Autoren hinausgeht“, und als Teil wie auch Instrument gesellschaftlicher und kultureller Partizipation (ebd.: 2) dar.
Diese Überlegungen führen zu dem zurück, was schon Friedrich Schlegel 1798 in der Zeitschrift Athenäum über Literatur formulierte:
Eine Definition der Poesie kann nur bestimmen, was sie seyn soll, nicht was sie in der Wirklichkeit war und ist; sonst würde sie am kürzesten so lauten: Poesie ist, was man zu irgend einer Zeit, an irgend einem Orte so genannt hat. (Schlegel 1983: 204)
2 Literaturdidaktik – Literaturwissenschaft
Blickt man auf die Publikationen im Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, fällt auf, dass sich der Begriff „Literaturdidaktik“überraschend selten findet. Meist werden andere Formulierungen gewählt. So haben die thematisch einschlägigen Bände, die seit dem Jahr 2000 erschienen sind, Titel wie Literatur im DaF-Unterricht (Koppensteiner 2001), Literatur im DaF/DaZ-Unterricht (Koppensteiner/Schwarz 2012), Deutsch als Fremdsprache und Literaturwissenschaft (Ewert/Riedner/Schiedermair 2011a), Literatur in Deutsch als Fremdsprache und internationaler Germanistik (Altmayer/Dobstadt/Riedner/Schier 2014), Ästhetisches Lernen im DaF/DaZ-Unterricht. Literatur – Theater – Bildende Kunst – Musik – Film (Bernstein/Lerchner 2014), Aktuelle deutschsprachige Literatur für die Internationale Germanistik und das Fach Deutsch als Fremdsprache (Hille/Jambon/Meyer 2015) und Literaturvermittlung (Schiedermair 2017a). Ähnliche Titel wurden für die Themenhefte der Fachzeitschriften zu diesem Schwerpunkt gewählt, etwa Literatur im Anfängerunterricht (Fremdsprache Deutsch 2/1994), Fremdsprache Literatur (Fremdsprache Deutsch 44/2011), Literatur in sprach- und kulturbezogenen Lehr- und Lernprozessen im Kontext von DaF/DaZ (Deutsch als Fremdsprache 2014/ Heft 1 – 4, 2015/ Heft 1 – 3). Auch die zentralen Artikel im internationalen Handbuch Deutsch als Fremdsprache (2001) bzw. Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (2010) formulieren ihre Titel, ohne den Begriff „Literaturdidaktik“ zu verwenden: Literarische Texte im Deutschunterricht (Ehlers 2001), Literatur, Kultur, Leser und Fremde – Theoriebildung und Literaturvermittlung im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (Riedner 2010a).
In den Fachdidaktiken der Germanistik – Deutsch als L1 in Schulen der D-A-CH-L-Länder – und der Fremdsprachenphilologien wie Anglistik und Romanistik ist dagegen selbstverständlich von „Literaturdidaktik“ die Rede. So scheint der Begriff den schulischen Kontext zu implizieren, was auch die Definitionen der „Literaturdidaktik“, die sich in den einschlägigen fachdidaktischen Einführungen finden, nahelegen. So heißt es etwa bei Ehlers (2016: 13): „Literaturdidaktik ist die Wissenschaft vom Lehren und Lernen von Literatur und literarischen Erzählmedien im institutionellen Rahmen von Schule, die Literatur und Erzählmedien unter dem Aspekt ihres Bildungswertes für Schüler und ihrer Lehr- und Lesbarkeit betrachtet.“ Leubner/Saupe/Richter (2016: 13) fassen den Begriff zunächst weiter als „Wissenschaft vom Lehren und Lernen der Literatur“, weisen in einem zweiten Schritt dann aber ebenfalls darauf hin, dass die „entsprechenden Prozesse […] vor allem im Literaturunterricht im Rahmen des Deutsch- und Fremdsprachenunterrichts“ stattfinden.
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