Wichtig ist uns, dass der vorgestellte Lehr- und Forschungsbereich in der Dimension seiner wissenschaftlichen Diskussion wahrgenommen wird, die die eristische Verfasstheit von Wissenschaft, deren diskursive Struktur, Dynamik und Prozesshaftigkeit berücksichtigt. Deshalb kommen verschiedene Positionen zu Wort, ergänzen einander, zustimmend, modifizierend oder durchaus auch kritisch widersprechend.
Wir hoffen, dass wir Wege durch ein weites Terrain vorschlagen können, die es ermöglichen, Konzepte und Perspektiven näher kennenzulernen und für den Unterricht eine begründete Wahl von Texten und Vorgehensweisen zu treffen. Wir möchten zur Arbeit mit literarischen Texten inspirieren, nicht nur in der unterrichtlichen Praxis, sondern auch in Lehre und Forschung.
Wir hoffen, dass damit die Literaturdidaktik in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache als facettenreiches und produktives Feld sichtbar wird – wie wir es in unserer eigenen Arbeit mit Studierenden unserer Bachelor-, Master- und Lehramtsstudiengänge in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, im Rahmen von Fortbildungen, Vorträgen und Gastdozenturen in verschiedenen Ländern mit Lernenden, Studierenden, Lehrenden und Forschenden seit vielen Jahren erleben.
Berlin und Jena, im August 2021 Almut Hille und Simone Schiedermair
I Theoretische Perspektiven
„Die geschriebene Literatur hat, historisch gesehen, nur wenige Jahrhunderte lang eine dominierende Rolle gespielt. Die Vorherrschaft des Buches wirkt heute bereits wie eine Episode. Ein unvergleichlich längerer Zeitraum ging ihr voraus, in dem die Literatur mündlich war; nunmehr wird sie vom Zeitalter der elektronischen Medien abgelöst, die ihrer Tendenz nach wiederum einen jeden zum Sprechen bringen.“
Hans Magnus Enzensberger (1970: 125)
Angesichts dieser Einschätzung von geschriebener Literatur als einer „Episode“ der literarischen Kommunikation wäre eingangs zu fragen: Was ist eigentlich Literatur?
Abgeleitet wird der Begriff „Literatur“ von den lateinischen Termini „littera“ (Buchstabe) bzw. „litteratura“ (Buchstabenschrift). Er umfasst zunächst alles, was in geschriebener oder gedruckter Form vorliegt. Man kann dafür auch den Begriff „Text“ verwenden. Texte – auch literarische Texte – können aber nicht nur in geschriebener oder gedruckter, sondern auch in bildlicher oder in mündlicher Form vorliegen bzw. vorgetragen werden. Mit der Digitalisierung haben sich zudem neue Möglichkeiten der Speicherung von geschriebenen, bildlichen wie auch mündlich präsentierten Texten entwickelt.
Im Unterschied zu dieser sehr allgemeinen Bestimmung von „Literatur“ assoziiert man mit dem alltagssprachlichen Begriff der Literatur in der Regel eine Subkategorie von Texten, die sogenannte „schöne Literatur“ oder „Belletristik“. Wie Ralf Klausnitzer in seinem Studienbuch Literaturwissenschaft (2012) darlegt, wird sie besonders in ihrer Differenz zu anderen Texten, etwa Sach- und Informationstexten, fassbar:
Literarische Texte
wollen nicht (primär) informieren, sondern „ unterhalten und faszinieren “, indem sie „intensiv und dauerhaft“ die „Einbildungskraft“ ihrer Leser*innen „mobilisieren“.
vermitteln keine „kodifizierten oder formalisierbaren Erkenntnisse“, sondern Einsichten in individuelle oder kollektive Problemlagen und -verarbeitungen.
„geben keine Handlungsanweisungen für reale Situationen“, sondern ermöglichen ihren Leser*innen ein „ symbolisches Probehandeln in imaginierten Welten“; gleichzeitig gibt es auch literarische Texte, die keine fiktiven Welten imaginieren, sondern Darstellungen von ‚Wirklichkeit‘ erproben wie etwa Autobiografien, Memoiren, Reiseberichte und Reportagen.
„ befreien durch eine irritierende Sprache die Wahrnehmung ihrer Leser*innen von Automatismen“ (vgl. Klausnitzer 2012: 15, Hervorh. i.O.).
In dieser Differenzierung sind Dimensionen eines möglichen Begriffs von Literatur angedeutet, die für die Literaturdidaktik fruchtbar zu machen sind. Sie beziehen sich – bei aller Schwierigkeit, diese tatsächlich klar zu bestimmen – erstens auf Charakteristika undzweitens auf Funktionen als mögliche Kriteriender Bestimmung eines Begriffs von Literatur. Einer möglichen Bestimmung dieses Begriffs kann man sich drittens auch von der Kommunikationssituationund viertens von dem umfassenderen Begriff des Erzählensaus nähern.
Zunächst zu den möglichen Charakteristikavon Literatur: Poetizitätund Verfremdung, Mehrdeutigkeitenund Unbestimmtheiten, Fiktionalitätsowie Diskursivität. Frühe Bestimmungen der Poetizität stammen von Viktor Šklovskij und Roman Jakobson, die ihre Überlegungen im Kontext des russischen Formalismus bzw. des Prager Strukturalismus entwickelt haben. In ihren grundlegenden Aufsätzen Die Kunst als Verfahren (Šklovskij1994/1969/russ.1916) und Linguistik und Poetik (Jakobson 2005/1971/engl. 1960) untersuchen sie die Darstellungsstrategien literarischer Texte. Die fachwissenschaftliche Diskussion zur Rolle von literarischen Texten in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache hat von Anfang an auf diese beiden Konzepte Bezug genommen1 und lässt sich bis heute von ihnen inspirieren.2
Die besondere sprachliche Gestaltung von literarischen Texten wäre nach Roman Jakobson mit dem Begriff der „ Poetizität“ zu fassen und steht in engem Zusammenhang mit der poetischen Funktion von Sprache.3 Diese realisiert sich in der besonderen und dadurch auffallenden Verwendung von sprachlichen Zeichen, durch die eine Differenz zur Alltagssprache mit ihren Gewohnheiten und Automatismen des Lesens, Hörens, Schreibens, Sprechens und Sehens entsteht.
Ein wichtiges Prinzip der Realisierung der poetischen Funktion von Sprache ist die Abweichungvon sprachlichen Regeln oder Normen. So werden z. B. ungewöhnliche, überraschende Klang- oder Wortfiguren und Tropen in (literarischen) Texten verwendet: Alliterationen, Metaphern oder ironische Rede (→ Kap. 9). Durch ein sprachliches Experimentieren bei der Produktion von Texten können grammatische Regeln verletzt werden oder auch typografische Regeln beim Druck von Texten; man denke etwa an die Visuelle oder Konkrete Poesie. Mit diesen Strategien wird die Aufmerksamkeit der Lesenden auf die konkrete sprachliche Verfasstheit der Texte gelenkt; das Wie , d.h. die Form der Texte und deren Beitrag zur Bedeutungsbildung gerät so in den Fokus. Jakobson spricht davon, dass die poetische Funktion die „ Einstellung auf die BOTSCHAFT als solche“ (Jakobson 2005: 92, Hervorh. i.O.) bewirkt. So stellen etwa Äquivalenzen auf der Klangebene wie Reime und Alliterationen sowie Wiederholungen Strategien dar, um Aufmerksamkeit zu erreichen (vgl. ebd.: 93). Aber auch die „grammatische Architektonik“ (Jakobson 2007: 691), die Häufigkeit und Verteilung von Satzarten und Wortarten sowie lexikalische und syntaktische Auffälligkeiten können solche Strategien sein, wie Jakobson an dem Gedicht Wir sind sie (1931) von Bertolt Brecht zeigt. So analysiert er beispielsweise, wie über die Verwendung einer „Kette identischer Diphthonge“ (Jakobson 2007: 707) verschiedene Ausdrücke in dem Gedicht „verbunden“ sind – „ei“ etwa in „Part ei “, „in ei nem“, „geh ei m“ (ebd., Hervorh. i.O.) u.a. – und so über klangliche Wiederholung eine semantische Netzstruktur geschaffen wird, mit der Entfremdung und Verbindung des Einzelnen zur Partei kommentiert werden.
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