Neben dem Hören, Horchen und Lauschen kann auch das Zuhören, „ein aufmerksames konzentriertes Hören auf die Äußerungen eines anderen“ und damit innerhalb von Kommunikationssituationen verortet (vgl. Wermke 2013: 185), anhand literarischer Texte geschult werden. In der Kommunikation über Texte, im Austausch über deren mögliche (Be-)Deutungen und Wirkungen spielt es eine Rolle. Auch beim (künstlerischen) Erzählen im Deutsch als Fremd- und Zweitsprachunterricht (→ Kap. 12, 20) kommt dem Zuhören, auch als eine soziale Fähigkeit aufgefasst, eine starke Bedeutung zu. Es wird von den Erzähler*innen explizit als eine bei den Zuhörer*innen, die auch selbst im Unterricht zu Erzähler*innen werden, zu fördernde Fertigkeit reflektiert und gefördert (vgl. Wardetzky 2010: 45).4 Im Anschluss an Wardetzky hat Narges Roshan (2020) kürzlich einen Vorschlag zum (künstlerischen) Erzählen von Märchen im Kontext von Deutsch als Zweitsprache dargestellt (→ Kap. 12).
Alle (Zu-)Hörer*innen sind auch selbst Sprecher*innen – sei es beim Präsentieren von (eigenen) Texten oder im differenzierten Austausch über Höreindrücke (vgl. Wermke 2013: 186f.).
Die Förderung der Fertigkeit Sprechenist ein großes Bedürfnis der Lernenden und gleichzeitig eine der großen Herausforderungen im Fremd- und Zweitsprachunterricht. Viele Lernende – etwa (junge) Erwachsene in fakultativen Sprachkursen – stellen es als ihr persönliches Lernziel dar, besser sprechen zu können. Daraus ergibt sich der unterrichtliche Anspruch, einerseits die Sprechbereitschaftvon Lernenden zu nutzen, auszubauen oder überhaupt erst anzuregen; angemessene individuelle Zeiten zum Sprechen einzuplanen und eventuelle Sprechhemmungen abzubauen. Andererseits muss die Sprechfähigkeitder Lernenden gefördert werden: Sie umfasst etwa die Aussprache, die Sprachflüssigkeit und die nonverbale Kommunikation (vgl. auch Elis 2015: 93). Zentral ist der Begriff der Sprechkompetenz: Er umfasst ebenfalls die Dimension der Flüssigkeit (fluency), meint darüber hinaus jedoch vor allem die Korrektheit des Gebrauchs sprachlicher Regeln (accuracy), die lexikalische und grammatische Breite (complexity) und die pragmatische Angemessenheit (appropriacy) (vgl. Schmidt 2016: 102).
In kognitionswissenschaftlicher Perspektive bestehen zwischen dem Sprechen und dem Schreiben gewisse Ähnlichkeiten. Anders als das in der Regel beim Schreiben der Fall ist, findet das freie mündliche Sprechen jedoch unter Zeitdruck statt. Es ist kein zyklischer Prozess, der Raum für längere und wiederkehrende Phasen des Planens, Verfassens und Überarbeitens eines Textes vor dessen Präsentation bietet.
In der Arbeit mit literarischen Texten kann man eine Verlangsamung und ein wiederholtes ‚Üben‘ des Sprechens erreichen. Zu unterscheiden sind das Sprechen von literarischen Textenund das Sprechen über literarische Texte. Beide gehen in der Regel jedoch Hand in Hand. Das Sprechen von literarischen Texten wird auch unter dem Begriff der Ästhetischen Kommunikation gefasst. Mit ihm wird das Textsprechen in einem dialogischen Modell, d.h. das Senden und Empfangen des gesprochenen Textes als kommunikativer Prozess aufgefasst, in dessen Verlauf auf beiden Seiten eine Vielstimmigkeit entsteht (vgl. Brunner 2006: 91). Eine solche Auffassung liegt auch dem künstlerischen Erzählen zugrunde (vgl. Roshan 2020: 43ff.).
Die sprecherische Gestaltung von Texten enthält immer performative Elemente. Sie lässt viele Freiräume, ist stets subjektiv und ‚weiß‘ im besten Falle um die vielfältigen Möglichkeiten der Bedeutung und Wahrnehmung von Texten. Geprägt wird die Textgestaltung (oder Performance, von der z. B. beim Poetry Slam die Rede ist) von hörbaren und sichtbaren Komponenten. Die hörbaren Komponenten sind u.a. Aussprache, Stimmqualität, Sprechtempo, Rhythmus, Pausen und Intonation; die sichtbaren Komponenten sind u.a. Haltung, Gestik, Mimik und Blickkontakt (vgl. Brunner 2006: 92f.). Individuell gestaltet werden können lyrische Texte, auch Slam Poetry, kleine Textformen wie Anekdoten oder Fabeln, Kurzgeschichten sowie Auszüge aus erzählenden oder dramatischen Texten. Diese enthalten oft Figurenmonologe oder bieten Gelegenheit, solche in Anlehnung an die Textvorlage zu schreiben und anschließend zu performen.
Für die sprecherische Gestaltung von Texten im Unterricht werden folgende Empfehlungen gegeben (wobei die letzten drei Punkte auch für das Schreiben und die Präsentation geschriebener bzw. audiovisueller Texte gelten):
professionelle ‚Muster‘sprechfassungen von Schauspieler*innen, Autor*innen (etwa auf lyrikline.org oder zehnseiten.de) oder Erzähler*innen einsetzen (weniger von Lehrkräften) (→ Kap. 18),
lautes Ein- und Erlesen der Texte durch die Lernenden fördern,
jede Fassung würdigen,
den Prozess, nicht das Produkt in den Vordergrund stellen,
Feedbackregeln möglichst gemeinsam festlegen und beachten (Brunner 2006: 95).
Unterrichtsidee
Ein Unterrichtvorschlag wäre z. B. die sprecherische Gestaltung des Gedichts Ein Gleiches , auch als Wanderers Nachtlied bekannt, von Johann Wolfgang von Goethe.5 Es wird zunächst mit der Aufgabe ausgegeben, es sich selbst einmal laut vorzulesen. Im nächsten Schritt können einzelne Lernende Zettel ziehen, auf denen jeweils eine bestimmte Sprechhaltung vermerkt ist: Märchenerzähler*in, Trauerredner*in, Sportreporter*in, Pfarrer*in, Nachrichtensprecher*in, Politiker*in u. ä. Sie setzen ihre ‚Regieanweisung‘ vor der Gruppe um, und die Gruppe errät bzw. ermittelt die jeweilige ‚Rolle‘. Es entstehen verschiedene Deutungen und auch Wahrnehmungen des Textes, über die sich die Gruppe im Anschluss austauschen kann (vgl. ebd.: 95f.).
Die letztgenannte Phase ist bereits ein Sprechen über den Text. Es gehört in den Bereich der in der Fremdsprachendidaktik wie auch in der Fachdidaktik Deutsch oft so bezeichneten Anschlusskommunikation. In ihr sind die Fertigkeiten des Sprechens und des (Zu-)Hörens ebenso aufgehoben wie soziale Komponenten des Aushandelns von Bedeutungen und des Tolerierens von divergierenden Wahrnehmungen oder Meinungen. In Lektüregesprächen (→ Kap. 8) als einer Form der Anschlusskommunikation etwa muss man zuhören, vergleichen, andere Meinungen und Lösungsvorschläge respektieren und die eigene Meinung anhand des Textes begründen und verteidigen (vgl. Burwitz-Melzer 2006: 110). So können auch ausgewogene Beziehungen zwischen den Lernenden und eine tragfähige Gesprächskultur entstehen (vgl. Burwitz-Melzer 2007a: 224).
Das Sprechen über literarische Texte kann besonders anregend sein, da Lernende bestenfalls ‚involviert‘ sind, aus einem emotionalen Bedürfnis und Interesse heraus zu bedeutungsvollen und sie interessierenden Themen bzw. Problemlagen sprechen. Die (sprecherisch gestaltete) Textvorlage kann dabei besonders zum Austausch motivieren. Sie kann die Lernenden durch ein Lektüregespräch leiten und ihnen sprachliche Unterstützung etwa durch das Bereitstellen von (gesprochenen) Phrasen oder Chunks bieten, die sie auch in außerunterrichtlichen Kommunikationssituationen nutzen können (vgl. auch Elis 2015: 95).
Mit Blick auf junge Sprecher*innen von Fremd- und Zweitsprachen, etwa in der Primarstufe, kann anhand erster empirischer Studien festgehalten werden, dass sie in der Arbeit mit literarischen Texten zunächst Erfolge im Hören und Sprechen, erst später im Lesen und Schreiben erzielen (vgl. Burwitz-Melzer 2007a: 220). Angestrebt werden sollten allmähliche Übergänge vom Zuhören zum Selbstlesen sowie vom Nachsprechen ausgewählter Textteile und Formulieren erster Meinungen zu Texten hin zum Erzählen selbst erfundener Texte und zu ersten kurzen Lektüregesprächen (vgl. ebd.).
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