Die deutsche Debatte speist sich auch aus der Erinnerung an die Nazi-Zeit. War mitmachen tatsächlich »Pflicht«, wie da und dort zu hören ist? Oder war mitmachen im totalitären Staat eher ein Zwang, dem die meisten sich fügten? Diejenigen, die sich verweigern, die Deserteure, werden immer noch verachtet. Adolf Hitler hatte in »Mein Kampf« geschrieben: »Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben.« Auf die Idee, Menschen könnten Gründe haben, sich dem Militärdienst und dem Krieg zu verweigern, kam der »Führer« nicht. Nach vielen Jahren wurde im ehemaligen KZ Buchenwald ein Gedenkstein für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure der Wehrmacht enthüllt. Auf ihm ist zu lesen: »In Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Militärjustiz, die den Krieg verweigert haben und einem verbrecherischen Regime nicht mehr dienen wollten.« Es gibt Zeiten, in denen die Verweigerung eine moralische Pflicht ist. So lehnten französische Piloten im Afghanistankrieg mehrere Einsätze ab, weil sie das Bombardement für die Bevölkerung als zu risikoreich einschätzten. Ebenso erklärten israelische Reserveoffiziere, sie seien nicht mehr bereit, sich an Aktionen der Armee in widerrechtlich von Israelis besetzten Gebieten zu beteiligen. Der Pazifismus hat in Deutschland Tradition. Menschenliebe, christlicher Glaube oder das Bekenntnis zu einer anderen Religion können zur Ablehnung des Krieges führen. Die Pazifisten verweigern den Militärdienst und lehnen den Krieg zwischen Staaten ab. Was aber ist ihre Antwort, wenn nicht mehr Staaten gegeneinander stehen, sondern organisierte Banden die Welt terrorisieren, und wenn eine Weltregierung die Polizei einsetzt? Pazifisten hatten nie die Abschaffung der Polizei verlangt. Gegen Verbrecher wird notfalls auch mit Waffengewalt vorgegangen. Die UNO-Polizei ist aber verpflichtet, wie die Polizei der klassischen Nationalstaaten, bei der Anwendung von Waffengewalt auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu achten.
Frieden und soziale Gerechtigkeit sind untrennbar miteinander verbunden. Gerecht muss es zugehen, wenn die Güter der Welt verteilt werden. Das beginnt bei den Rohstoffen. Einer der wichtigsten Rohstoffe der Welt ist das Öl. Und die Ölquellen sind heute für Militärstrategen von ähnlicher Bedeutung wie Atombomben, Raketen oder Satelliten. Die Vereinigten Staaten stellen 4,5 Prozent der Weltbevölkerung, verbrauchen aber 25 Prozent der Welterdölproduktion. Das soll eine gerechte Weltordnung sein? Wie kein anderes Land wären die Vereinigten Staaten verpflichtet, ihre technologische Überlegenheit zur Energieeinsparung zu nutzen. Selbst der wirtschaftsnahe britische Economist empfahl den USA, nach dem 11. September eine Ökosteuer einzuführen. Die billige Polemik von CDU, CSU und FDP gegen die ökologische Steuer- und Abgabenreform der rot-grünen Koalition ist auch ein Ausweis mangelnder außenpolitischer Konzeption. Wenn die führenden Industriestaaten der Welt – zu ihnen gehört die Bundesrepublik Deutschland – bei der Energieeinsparung und bei der Entwicklung neuer Technologien zur Energiebereitstellung nicht vorangehen, dann werden die kriegerischen Auseinandersetzungen um die Öl- und Gasvorräte weitergehen. Außenpolitik im Zeitalter der Globalisierung ist Energie- und Wirtschaftspolitik.
Auch im Afghanistankrieg geht es nicht nur um Osama Bin Laden und das Talibanregime, sondern um die Öl- und Gasvorräte des Kaspischen Meeres. Es dient nicht dem Frieden, wenn die Vereinigten Staaten, unterstützt von den Europäern und der Bundesrepublik, die militärische Sicherung der Rohstoffquellen zum Bestandteil ihrer Außenpolitik erklären. Was würde man wohl sagen, wenn sich die muslimischen Staaten die texanischen Ölquellen militärisch sichern wollten?
»Überseepolitik wird zum Kampf um Absatzgebiete«, schrieb Oswald Spengler in seinem Buch »Jahre der Entscheidung«. Der Nobelpreisträger und ehemalige Chefökonom der Weltbank, Joseph E. Stiglitz, verweist auf Beispiele, die zeigen, dass es auch heute noch so ist. Das amerikanische Finanzministerium und die Weltbank forderten in Indonesien und Pakistan Verträge mit privaten Energieversorgern, die den Staat verpflichteten, große Mengen zu überhöhten Preisen abzunehmen. Als die korrupten Politiker, die diese Verträge abgeschlossen hatten, stürzten – Hutomo Suharto 1998 in Indonesien und Nawaz Sharif 1999 in Pakistan –, setzte die US-Administration die neuen Regierungen unter Druck, die Verträge zu erfüllen. Fair wäre es gewesen, auf die Neuverhandlungen der schlechten Vertragsbedingungen zu drängen. Bei diesen Konflikten müssen die Schwachen geschützt werden, damit sie überhaupt eine Chance haben. Dafür ist die Marktwirtschaft keine Garantie. In der Marktwirtschaft herrscht Wettbewerb. Wenn Kartellgesetze unfairen Wettbewerb und Monopolbildung nicht verhindern, dann haben kleine Unternehmen oft keine Chancen.
Diese Überlegungen gelten auch für den Welthandel. Dem Kampf um die Absatzgebiete soll die Welthandelsorganisation, die WTO, Regeln geben. Den Grundsätzen des fairen Wettbewerbs trägt sie aber nicht Rechnung. Sie verkehrt sie in ihr Gegenteil. Die Starken werden begünstigt und die Schwachen benachteiligt. Während die Zölle für die Industriegüter im Interesse der westlichen Staaten abgebaut wurden, verwehren diese den Entwicklungsländern den Zutritt zu ihren Agrarmärkten. Gleichzeitig stützen sie mit Milliardensubventionen ihren Agrarexport und ruinieren die Bauern in den weniger entwickelten Ländern. Hier setzen die Globalisierungskritiker an. So wie die Industriestaaten lange Jahre die heimische Wirtschaft mit Zöllen geschützt haben, bis sie wettbewerbsfähig wurde, so fordern sie, den Entwicklungsländern heute die gleichen Rechte und Chancen einzuräumen.Auch die Kritik an der Struktur der Weltfinanzmärkte wendet sich vor allem gegen die Benachteiligung der armen Länder. Die Weltfinanzkrisen haben gezeigt, wie Währungen wirtschaftlich weniger entwickelter Länder plötzlich abstürzen und wie schwere volkswirtschaftliche Schäden entstehen. Während Spekulanten gutes Geld verdienen, bezahlen Asiaten und Südamerikaner starke Wechselkursveränderungen mit Massenarbeitslosigkeit und sozialem Elend. Zu einseitig vertreten Weltbank und Internationaler Währungsfonds die Interessen des Finanzkapitals und der multinationalen Konzerne. Die mit dem »Washington-Konsens« verbundene Deregulierung des Kapital- und Güterverkehrs nützt den einen und schadet den anderen. Es war ein Fehler, in den ostasiatischen Staaten ohne eine solide Bankenstruktur den Kapitalverkehr freizugeben. Ihre Volkswirtschaften waren für diesen Schritt noch nicht reif. Um ein stetiges Wachstum der Weltwirtschaft zu erreichen, brauchen wir wieder stabilere Wechselkurse und die Kontrolle des kurzfristigen Kapitalverkehrs.
Der Export der westlichen Technologie und Lebensweise in alle Welt stößt auf kulturelle Hürden. Nach den Bombenangriffen auf Bagdad und Basra im Golfkrieg 1991 schrieb die Times of India, der Westen strebe ein regionales Jalta an, bei dem die »mächtigen Nationen die arabischen Beutestücke unter sich aufteilen«. Und weiter: »Das Verhalten der Westmächte hat uns die Kehrseite der westlichen Zivilisation gezeigt: ihre ungezügelte Gier nach Herrschaft, ihre morbide Anbetung hochtechnologischer Rüstung, ihren Mangel an Verständnis für fremde Kulturen, ihren abstoßenden Chauvinismus …«
Bei dem rasanten Tempo wirtschaftlicher und technologischer Veränderungen können viele Menschen nicht mehr folgen. Sie setzen sich zur Wehr. Kommt noch das Gefühl hinzu, benachteiligt zu sein oder gar ausgebeutet zu werden, dann wird der Nährboden des Terrorismus bereitet. Die westliche Staatengemeinschaft wäre gut beraten, stärker als bisher auf die Kulturen anderer Länder Rücksicht zu nehmen. Das gilt vor allem für die muslimische Welt.Wir haben keinen Grund, überheblich zu sein. Das Christentum kannte Kreuzzüge, Folter und Hexenverbrennungen in großem Ausmaß.
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