Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen Wunsch teilte.
»Wie leer ist das hier. In der Stadt. Und in mir! Wie still sind die nächtlichen Stunden! Kein Mensch ist noch wach. Nirgends Licht unterm Dach. Alles hat längst zur Ruhe gefunden.« Drei Schwestern, »Schlaflied«
Wolter stapfte mit hochgeschlagenem Mantelkragen durch den Schnee davon, ich blickte ihm nach und drückte mir die Handballen auf die pochenden Schläfen. Ein Schnaps würde jetzt helfen, obwohl es eigentlich gegen meine Regeln verstieß, schon so früh am Morgen zu trinken. Ich goss den letzten Rest aus der Flasche in ein Glas und stürzte ihn hinunter, ehe die Schärfe sich im Mund ausbreiten konnte. The Egg from the Edge? Was für ein dubioser, was für ein verrückter Vorschlag! Doch selbst wenn sich dieser begnadete Verkäufer in seinen Visionen total verrannt hatte, konnte ich in dem Wahnsinn Methode erkennen. Was wäre denn gewesen, wenn die letzten Hornoer ihr Obst vermostet und auf Flaschen gezogen hätten? Bagger-Boskop oder Kipper-Kirsche? Warum nicht gleich Abriss-Birne? Das hätte sich bestimmt bestens verkauft, als bittersüßer Protest aus vollreifen Früchten. Und ich hätte natürlich darüber berichtet, anklagend oder werbend – je nach Bedarf, aber selbstverständlich immer originell. Schon schwirrten mir passende Sprachspiele durch den Kopf – von der letzten Lese bis zum finalen Fallobst, vom drohenden Ende der Haltbarkeitsdauer bis zu fehlenden Konservierungsstoffen. Mit solchen Metaphern kannte ich mich aus, auf diesem Terrain konnte mir auch Wolter nicht das Wasser reichen. Aber wäre das weniger zynisch als seine Idee gewesen?
Ich spürte, wie mir die angenehme Wärme aus dem Magen allmählich zu Kopf stieg und die Sinne benebelte. Der kurze Moment der absoluten Hellsichtigkeit, für den ich den ersten Schluck so liebte, war vorüber. Vielleicht würde ich mich doch noch einmal hinlegen. Ich hatte ja sonst nichts zu tun.
Zugleich mit dem schläfrigen Blick zur vergilbten Decke des Schlafzimmers schlingerten auch meine Gedanken rückwärts. Was hatte mich nur dazu bewogen, dieses Vermächtnis anzunehmen? Als ich das Anwaltsschreiben im Briefkasten fand, waren nur wenige Wochen vergangen. Die alte Dame sei still und allein gestorben – »friedlich eingeschlafen«, wie mir der Überbringer der Nachricht später in seiner klinisch kühl möblierten Kanzlei versicherte. Da es keine anderen Ansprüche Dritter gäbe, stünde mir der gesamte Besitz der Frau Hanka Reimer, geboren 1936 als Hanka Müller in Schwarzmühl, uneingeschränkt zu. Nach diesem leicht verunglückten Satz schnaufte der korpulente Verwalter des fremden Eigentums vernehmlich und tupfte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Es war noch immer Sommer und sehr schwül, obwohl ein Ventilator die Luft in diesem Reinraum des Rechts verwirbelte. »Wollen Sie das Erbe annehmen?« Mein Zögern ließ ihn unruhig zappeln, wobei die Uhrkette über seinem Wanst und die Fliege am Kehlkopf bebten. »Haus und Grundstück können Sie natürlich veräußern, Sie kennen die Lage ja. Außerdem ist da noch ein Bankkonto … ein erkleckliches Sümmchen, wenn ich das so sagen darf. Frau Reimer hat ausgesprochen sparsam gelebt. Das Testament hat übrigens einen seltsamen Nachsatz: Die Erblasserin bittet Sie, auf die Lutki aufzupassen.«
Dieser letzte Satz war es, der meine Entscheidung herbeiführte. Wie konnte ich einen solchen letzten Willen ausschlagen? Zwar wusste ich noch immer nicht, wer diese rätselhaften Lutki sein sollten, aber meine Neugier war geweckt. »Ja! Ich akzeptiere! Und ich werde nach Schwarzmühl ziehen.« Der Anwalt sah mich verwundert an, dann nickte er knapp. »Gut. Aber das Dorf steht auf der Kippe. Falls Sie also einmal rechtlichen Beistand brauchen … Sie wissen ja, wo Sie mich finden können. Viel Glück – oder besser: Glück auf!«
Ich reiste mit leichtem Gepäck, meine Wohnung in der Stadt war immer nur ein Stützpunkt gewesen. Zwei Fahrten mit einem Kleintransporter sollten genügen, um Möbel und Bücher in das alte Haus zu bringen. Auf dem Rückweg wollte ich entsorgen, was mir im neuen Heim überflüssig schien: die akkurat gefaltete Wäsche aus dem Kleiderschrank, die Batterie von Einweckgläsern aus dem Keller und das Doppelbett mit den durchgelegenen Matratzen. Einigen Erinnerungsstücken gönnte ich eine Gnadenfrist, über ihr Schicksal sollte erst nach Ablauf der Trauerzeit entschieden werden. Denn traurig war ich tatsächlich – auf eine seltsame, dankbare Weise, die sich mit stiller Heiterkeit mischte. Frau Reimers Ersparnisse würden – zusammen mit meinen eigenen Rücklagen – für eine längere Auszeit genügen, die ich dringend benötigte. Jahrelang war ich Ereignissen hinterhergelaufen und hatte mich durch fremde Leben gegraben, um meine selbst auferlegte und gut bezahlte Chronistenpflicht zu erfüllen. Dabei war ich stets scheinbar bescheiden im Hintergrund geblieben oder hatte mich bestenfalls als »Autor dieser Zeilen« zu erkennen gegeben – eine aufgeschminkte Maske mit eingefrorener Miene, hinter der man sein Gesicht wahren und seine Eitelkeiten verstecken konnte. Für Kommentare und Meinungen mochten andere zuständig sein, ich gefiel mir in der Rolle des Reporters an der Front.
Dafür hatte anfangs schlicht meine Jugend als Voraussetzung genügt: Ich war recht flink und einigermaßen verständig, hatte gerade mein Abitur bestanden und wollte mich noch nicht für ein Studium entscheiden. Also kellnerte ich abends und schrieb am Tag für die Lokalseiten der Neuen Ruhr Nachrichten – ein zielloses Treiben, dem erst der Fall der Mauer seine Richtung gab. Plötzlich wollte jedes Provinzblättchen exklusive Geschichten aus dem fernen Osten drucken, aber kaum jemand der älteren Blattmacher mochte dafür seinen angewärmten Platz in der Redaktion verlassen. Ich stürzte mich in das Abenteuer und fand, aus dem Pott kommend, die besten Geschichten schon bald in mitteldeutschen Revieren. Dass die Arbeit hier noch schwerer und schmutziger, ihr Ertrag geringer und die Technik hoffnungslos veraltet war, las man im tiefen Westen natürlich gern. Und als die Anteilnahme am Schicksal der wiedergewonnenen Brüder und Schwestern allmählich nachließ, weil man die wachsenden Kosten dieser Familienzusammenführung addierte, konnte ich erste Skandale aus diesen neuen Ländern gut verkaufen. Singende Baggerfahrer und alte Seilschaften, gehetzte Ausländer und verschollene Millionen … Mit meinem alten Volvo erregte ich zu dieser Zeit längst kein Aufsehen mehr, bei Presseterminen fuhren die einheimischen Kollegen in glänzenden Karossen vor und schraubten teure Objektive vor ihre Kameras. Mein Vorteil blieb der fremde Blick und der Tonfall, den sie als Betroffene einfach nicht treffen konnten – neugierig staunend und trotz aller Zuneigung immer ein wenig abgewandt. Dass ich so aber auch der alten Heimat abhandengekommen war, bemerkte ich bei seltenen Besuchen: Meine Eltern fragten mich ungeduldig, wann ich mich denn nun endlich an der Universität einschreiben würde, meine alten Freunde kauten die immer gleichen Anekdoten wieder und hörten meinen Geschichten eher reserviert zu. Als sich auch noch Kathrin von mir trennte, weil sie unsere Beziehung nicht länger aus Fernwärme speisen wollte – ein Wort, das sie von mir gelernt hatte –, sah ich keinen Grund mehr, weiterhin in den Westen zu fahren.
Ich nistete mich in meiner Zwei-Zimmer-Platte ein, in der ich die Tapete mühsam vom Beton gekratzt und dabei auf nackter Wand den Vermerk »Nicht zum Wohnungsbau geeignet« entdeckt hatte – eine Warnung, die ich wenig später als Menetekel in einem Artikel über sterbende Neubausiedlungen verwendete. Die Räume meiner Wohnung waren kahl und roh geblieben, ich warf mich in die Pose des unbehausten Einsiedlers, der hinter schlierigem Glas auf die leeren Fenster gegenüber starrte. Mein einziger Luxus in dieser Zeit war eine ständig wachsende Sammlung von Computerspielen, mit denen ich mir die einsamen Abende vertrieb, sobald ich meine Texte an die Redaktion gefaxt hatte. Während draußen vor der Tür die Stadt schrumpfte, türmte ich auf dem Bildschirm futuristische Wolkenkratzer oder trieb als weitsichtiger Staatenlenker längst vergangenen Fortschritt voran – lauter virtuelle Erfolge, die schon bald auf meine Geschichten abfärbten. Immer öfter verglich ich nun wirkliche Entwicklungen mit den komplexen Abläufen in den fiktiven Metropolen, betrachtete die Straßen aus der Vogelperspektive und bevölkerte sie mit winzigen Menschen. Dass ich mir damit den Blickwinkel jener Entscheider zu eigen machte, die tatsächlich am Rechner über die Zukunft der Häuser und ihrer Bewohner bestimmten, brachte mir irgendwann meinen ersten großen Journalistenpreis ein – und wenig später die schriftliche Kündigung meines Pauschalvertrags, die ich einer missgünstigen Intrige gegen den Emporkömmling zuschrieb. Stärker als der Verlust der regelmäßigen Einnahmen aber schmerzte mich, dass ich nun kein »Fester Freier« mehr war – eine Beschreibung, die ich immer als Anspielung auf das Huren-Milieu verstanden hatte, in das entblößte Politiker unsere Zunft gern verwiesen.
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