»Dann schläft er eben bei mir!« Alle starrten mich an, am meisten aber wunderte ich mich selbst über den spontanen Einfall. »Genügend Platz habe ich ja.« Vielleicht suchte ich meine Rolle als Friedensrichter im schwelenden Streit, vielleicht war mir auch nur die selbstherrliche Pose des Wirts peinlich. »Aber erst nach Ausschankschluss.« Ich hob mein leeres Glas prüfend gegen das Licht, schraubte den Verschluss von der Flasche und goss mir nach. Dann verschränkte ich die Arme vor der Brust, als hätte ich soeben ein schwerwiegendes Urteil gefällt, das keinen Widerspruch duldet.
Wolter trat an meinen Tisch: »Das ist sehr freundlich. Gestatten Sie, dass ich Ihnen so lange Gesellschaft leiste?«
Schlagartig änderte sich die Temperatur im Raum: Joachim grinste schief, Liebigs Dame schlug endlich den Läufer des Majors, Herbert stopfte neuen Tabak in leere Hülsen und Werner griff wieder zu seiner Schere. Alle stellten ihr äußerstes Desinteresse an unserem Zwiegespräch zur Schau und ließen mich so als Verräter erscheinen, der von ihnen zu Recht mit Verachtung gestraft wurde. Zwar war auch Liebig dem Wirt ins Wort gefallen, mit meinem unbedachten Angebot aber hatte ich den stillen Frieden nachhaltig in Gefahr gebracht.
Der Urheber der Unruhe schien diese Spannung nicht zu spüren: »Ich heiße …«
»Wolter, ich weiß. Das war ja nicht zu überhören.«
Er nickte. »Und wie ist Ihr Name, wenn ich das direkt fragen darf?«
Seine unerschütterliche Höflichkeit steigerte meine Wut auf mich selbst und nötigte mir zugleich eine Antwort ab: »Hagen Siegfried. Meine Eltern hatten einen eigenartigen Sinn für Humor.«
Wolter lächelte und streckte mir die Hand entgegen. »Angenehm! Sagen Sie, Herr Siegfried, kommt der Wirt hier an den Tisch – oder muss man sich selbst bedienen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das läuft anders. Joachim hat längst keine Schanklizenz mehr, streng genommen ist das gar kein Gasthaus. Hier sorgt jeder selbst für seine Ration, der Wirt schließt bloß die Tür auf und heizt den Ofen. Wir zahlen nur für den Tisch und die Gläser – eine Art Korkengeld, auch wenn keiner von uns Wein trinkt. Liebig hat seine Milch, Herbert und Werner bleiben bei Bier, der Major und ich bevorzugen Schnaps. Aber alles nur für den Eigenbedarf, verstehen Sie? Ich hätte da höchstens Wasser für Sie … aus der Leitung.«
Wolter hatte verwundert zugehört. »Und Speisen? Ich habe seit Stunden nichts gegessen!«
In meine Antwort mischte ich geheucheltes Mitleid. »Die Küche bleibt schon seit Jahren kalt – seitdem Joachim die Frau weggelaufen ist. Dafür dürfen wir hier rauchen, so viel wir wollen.« Ich nahm eine Zigarette aus meinem Etui und hielt es Wolter hin. »Nehmen Sie! Das betäubt den Hunger!«
Er lehnte dankend ab. »Aber da vorn, auf dem Tresen – in dem Glas mit der braunen Brühe?« Mit dem Daumen deutete er über die Schulter.
»Ach so, die Soleier. Die sind ja eigentlich gar keine richtige Mahlzeit, eher ein Imbiss. Schließt den Magen und steigert den Durst. Liebig füttert dafür die Hühner, Werner setzt die Lake an. Landeier für Landeier gewissermaßen – ein bisschen lokale Folklore.«
Wolter flüchtete sich in Sarkasmus: »Was ist das hier? Das Ende der Welt – oder die Pforte zur Hölle?«
Jetzt musste ich grinsen. »Die einen sagen so – die anderen so. Wir nennen es Island, weil es so abgelegen und so still ist. Wie das kleine Sibirien bei Welzow, nicht weit von hier. Fast menschenleer, unwirtlich, hart am Abgrund. Aber warten Sie, ich hole Ihnen Eier.«
Widerwillig füllte mir Joachim eine Flasche mit Wasser und stülpte ein makellos poliertes Glas über ihren Hals. Dann stellte er Pfeffer, Salz und Senf, Essig, Öl und Worcestersauce auf ein Tablett. Schließlich fischte er im Trüben und holte zwei Eier heraus, die er neben Messer und Löffel auf eine Untertasse legte. »Geht aufs Haus«, knurrte er, als er mir das kärgliche Mahl herüberschob.
Ich balancierte die Last zum Tisch, Wolter sah mir dankbar entgegen. »Gut – oder zumindest besser als nichts.« Er kratzte die brüchige Schale mit den Fingernägeln herunter, streute reichlich Salz über das marmorierte Eiweiß und stopfte sich das Ganze mit einem Mal in den Mund.
»Halt, was machen Sie denn da?« Ich schaute ihn vorwurfsvoll an. »So isst man doch kein Solei!« Mit geübter Hand schälte ich das zweite Exemplar, dann halbierte ich es längs und hob mit dem Löffel den hart gekochten Dotter heraus. In die Höhlung strich ich eine Messerspitze Senf, dann träufelte ich Öl und Essig darüber und vollendete die Mischung mit drei Tropfen der dunklen, würzigen Sauce. Nachdem ich das Eigelb wieder eingefügt hatte, krümelte ich Salz und Pfeffer auf die Schnittfläche. »So, jetzt ist es perfekt!«
Wolter hatte seinen Brocken inzwischen zerkaut und heruntergespült, jetzt griff er nach der angebotenen Hälfte. Kurz verzog sich sein Gesicht, als sich der Geschmack am Gaumen ausbreitete. Er schluckte, dann sagte er: »Interessant. Wirklich aromatisch. Aber lohnt denn der Aufwand für diesen Happen?«
Wer so fragte, hatte den Sinn des Ganzen nicht verstanden. »Es ist ein Ritual, die Veredlung des Einfachen. Fast alle Zutaten sind, für sich genommen, alltäglich, die Summe aber ist mehr als ihre einzelnen Teile. Ein Bisschen Alchemie, wenn Sie so wollen. Bisschen großgeschrieben, wie Häppchen. Probieren Sie es – das wirkt sehr beruhigend.«
Während Wolter mit Messer und Löffel hantierte, schaute ich zu den anderen Insulanern hinüber. Die Schachspieler hatten die Farben getauscht, nachdem Liebig – wie eigentlich immer – als Sieger vom Brett gegangen war. Herbert nahm gerade einen kräftigen Schluck aus der Pulle, Werner untersuchte mit seiner Lupe ein anscheinend besonders interessantes Fundstück. Jeder war in seinen Trott zurückgekehrt, Krabat zuckte im Schlaf mit den Läufen, als würde er einen Hasen jagen. Der Eindringling schien tatsächlich fast vergessen, nur Joachim starrte weiter finster vor sich hin.
Plötzlich sah ich die vertraute Runde mit den Augen des Fremden. Wie mussten wir ihm erscheinen? Als Desperados oder Eremiten? Aussteiger oder Sitzenbleiber? Ich ließ Schnaps durch die Kehle fließen, schenkte nach und prostete Wolter zu. »Auf Ihr Wohl! Aber halt – Sie haben ja nur Wasser!« Er hatte den Rest seines Soleis gegessen, jetzt trank er aus und hielt mir das Glas hin. »Wollen Sie das ändern? Ich heiße übrigens …«
»Konrad, schon klar. Dann kommen Sie mal mit, Wolter. Das war hier nämlich die letzte Runde.«
»Wer noch geh’n kann, sucht das Weite, Wer noch bleibt, kann nicht mehr geh’n. Unser Kurs führt in die Pleite, Und kein Ausweg ist zu seh’n.« Drei Schwestern, »Bettlers Bankett«
Der kurze Weg zu meinem Haus dauerte diesmal ungewöhnlich lange. Der frisch gefallene Schnee erschwerte ohnehin jeden Schritt, zugleich aber musste ich Rücksicht auf meinen Begleiter nehmen, der keuchend gegen den schneidenden Wind kämpfte. Unser Abschied aus dem Wirtshaus war beschleunigt worden, nachdem ich Wolter vom Selbstgebrannten eingeschenkt hatte. Joachim war wutschnaubend an unseren Tisch gestürmt, hatte etwas von Regeln und Hausrecht gefaselt und mit ausgestrecktem Arm auf die Tür gedeutet. Der Rest der Runde hatte sich abermals in Schweigen gehüllt, nur dem Major war ein gehorsam gebelltes »Jawoll!« über die Lippen gekommen.
Nun stapften wir schweigend nebeneinander her und ich fragte mich abermals, warum ich mir diesen Klotz ans Bein gebunden hatte. Unser Atem flockte in der eisigen Luft, die den angenehmen Rausch schlagartig vertrieb und so mein Bollwerk gegen die unwillkommenen Träume zerstörte. Doch trotz der Ernüchterung musste ich im Dunkeln ein wenig stochern, ehe ich das Schlüsselloch fand. Wolter nahm seine Brille ab und rieb die schmelzenden Flocken von den Gläsern. »Schön haben Sie es hier, Hagen!«
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