1 ...7 8 9 11 12 13 ...29 Cornelius Brock stieg die Treppe in das Obergeschoss hoch und wurde schon bald von einer merkwürdigen Geräuschkulisse empfangen: Schüsse, Schreie, Explosionen.
Er blieb kurz vor der Tür stehen, auf der ein handgeschriebenes Schild verkündete: Eintritt nur nach Aufforderung!
Brock fühlte sich aufgefordert und stieß die Tür auf.
Daniel Holler fuhr erschrocken herum und starrte ihn an. Er saß vor einem Tisch, auf dem drei Monitore nebeneinander aufgereiht waren. Unter dem Tisch standen zwei große Computergehäuse. Außerdem gab es Stapel von Spielen, Tastaturen, einen aufgeklappten Laptop und jede Menge Spielezubehör.
„Drück mal die Pausentaste“, sagte Brock.
Daniel gehorchte, und der Lärm war schlagartig vorbei.
„Was wollen Sie?“ Seine Stimme klang schrill und aggressiv.
„Wann hast du deinen Bruder zuletzt gesehen?“
„Weiß ich nicht. Ist schon länger her.“
„Du arbeitest doch gelegentlich in der Firma, oder?“
Der junge Mann fühlte sich eindeutig gestört. „Ja, aber im Lager. Markus war meistens im Kontor.“
„Weißt du, was dein Bruder privat gemacht hat?“
Daniel schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn nicht danach gefragt. Wir haben nicht viel miteinander gesprochen.“
Der junge Mann schien merklich angespannt und nervös zu sein. Es war nicht die Zeit, ihn weiter zu bedrängen.
Brock ließ seinen Blick durch den Raum mit den heruntergelassenen Jalousien schweifen. „Dann spiel’ mal weiter.“
Viel hatte dieser Besuch nicht ergeben.
Bis auf den Dolch natürlich. Und den musste er sofort in die Gerichtsmedizin bringen. Dort gab es ein leistungsfähiges Labor, das auch mit der Analyse von DNA-Spuren umgehen konnte.
„Wie viel ist insgesamt verschwunden?“, fragte der Mann mit der Schirmmütze. Seine Worte hallten in der großen Lagerhalle nach, in der sich zurzeit nur wenige Kistenstapel befanden. Das Licht, das durch die schmutzigen Oberlichter fiel, zeichnete filigrane Muster auf den staubigen Boden.
Der jüngere Mann zögerte einen Moment. „Fünfzig Kilo“, sagte er schließlich leise und senkte den Blick. Eigentlich war der Mann noch ein Junge, nicht älter als achtzehn oder neunzehn Jahre. Seine Augen blickten irgendwie traurig. Auf seiner Oberlippe war der zarte Flaum eines Bartes zu sehen. Er war dankbar für den Job, den er hier bekommen hatte. Fiete war sein großes Vorbild, was schlicht daran lag, dass er noch nicht viel Erfahrung in der Beurteilung eines Menschen hatte. Doch Fiete hatte ihn von der Straße geholt, und dafür war er ihm dankbar.
Der Ältere nahm die Schirmmütze ab und strich sich mit der Hand über den kahlrasierten und wie poliert aussehenden Schädel. Hoch über dem linken Auge war jetzt eine gezackte Narbe zu sehen. Er trug Arbeitskleidung und unförmige Schuhe. Sein Alter mochte irgendwo zwischen vierzig und fünfzig liegen. Alle riefen ihn nur Fiete, obwohl keiner wusste warum. Fiete ist die norddeutsche Kurzform für Friedrich, doch das war nicht sein richtiger Name.
„Das ist die Hälfte der Lieferung“, stellte er fest.
Der jüngere Mann nickte und wirkte dabei sehr unglücklich.
„Und wo ist die fehlende Hälfte?“, kam es drohend.
Jetzt schwitzte der junge Mann. „Das weiß ich nicht.“
„Das weißt du also nicht“, wiederholte der Ältere. „Wie können denn fünfzig Kilo so einfach verschwinden?“
„Ich habe keine Erklärung.“
„Ich sage dir mal was. Fünfzig Kilo – das sind fünfzig einzelne Pakete in zwei großen Sporttaschen. Die rutschen nicht durch irgendein Sieb. Die verlegt man auch nicht aus Versehen. Nein, die hat jemand an sich gebracht, und der lacht sich jetzt tot über uns.“
„Das muss am Freitag im Hafen passiert sein“, wandte der jüngere ein.
„Wir werden nichts finden, wenn wir deine Bude auseinandernehmen, oder?“
Der jüngere Mann blickte erschrocken auf. „Das war ich nicht! Die Ware ist aus dem Container geklaut worden. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht!“
Fiete setzte seine Mütze wieder auf.
„Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Der Lieferant will sein Geld haben. Wir haben erst die Hälfte bezahlt, und das hat fast unsere ganzen Reserven gekostet. Kannst du dir vorstellen, was die mit uns machen, wenn sie ihre Kohle nicht kriegen? Nein, das kannst du vermutlich nicht. Ich sage es dir: die ziehen dir die Haut bei lebendigem Leib ab und anschließend zerlegen sie dich in deine Einzelteile.“
Die Lippen des jungen Mannes begannen zu zittern, und seine Augen füllten sich mit Tränen. „Ich kann doch nichts dafür.“
„Jemand hat die Ware, und den müssen wir finden, ehe es zu spät ist. Ich möchte jetzt ganz genau wissen, wie es abgelaufen ist. Fang mit dem Schiff an, als es noch auf See war. Du hast die Ware doch hin und wieder kontrolliert, oder?“
Der jüngere nickte heftig. „Ich habe es ganz genau so gemacht, wie man es mir gesagt hat. Niemand hat sich an der Ladung zu schaffen gemacht. Die Siegel des Containers waren unbeschädigt. Es kann erst im Hafen passiert sein. Während die Fracht gelöscht wurde, kam ich nicht an die Ware heran. Der Container stand einige Stunden auf dem Kai, bis ich die Fracht, die darin war, in den Lagerschuppen bringen konnte. Es war Wochenende, und ich habe die Kisten nicht gleich geprüft, da die Lagerhalle verschlossen wurde. Am Montag habe ich dann in beiden Kisten nachgesehen und festgestellt, dass aus einer Kiste die Taschen verschwunden waren.“
„Hast du irgendeinen Verdacht?“
„Nein, ich habe niemanden gesehen.“
„Du hast die ganze Zeit den Container auf dem Kai im Auge behalten?“, fragte Fiete lauernd.
Ein kurzes Stocken. „Na, ja, ich war mal auf der Toilette – und einen Kaffee habe ich mir auch geholt. Aber das hat nur wenige Minuten gedauert.“
Das Gesicht des Mützenträgers verzerrte sich. „Du Idiot hast also nicht gesehen, wie unsere Ware geklaut wurde. Das wird noch ein Nachspiel haben.“
Er deutete auf die beiden schwarzen Sporttaschen, die vor ihm auf dem Boden standen. „Die bringe ich selbst zu unserem Abnehmer. Da werde ich den Russen einiges zu erklären haben. Das Geld lasse ich gleich nach Panama überweisen, damit der Verkäufer erst mal beruhigt ist. Und du überlegst inzwischen, ob dir nicht doch etwas aufgefallen ist, das uns weiterhelfen kann, die Diebe zu finden.“
„Ich habe nur den Chef gesehen!“, rief der Junge plötzlich.
Der Kahlkopf stellte die Taschen, die er gerade hochgenommen hatte, wieder ab und drehte sich um. „Welchen Chef?“
„Holler natürlich. Markus Holler.“
„Der ist doch sonst nie hier“, überlegte Fiete. „Du bist sicher, dass er am Freitag hier war?“
Der Junge nickte mehrmals. „Er war auf dem Parkplatz vor der Halle. Er hat etwas in sein Auto gepackt und ist weggefahren. Ich weiß nicht, was er hier gemacht hat.“
„Wann genau war das?“
Der junge Mann überlegte. „Bevor ich die Kisten überprüft habe, war ich noch mal auf dem Schiff, um meine Sachen zu holen. Ich habe mich noch von den Kollegen verabschiedet, bevor ich zur Lagerhalle zurückgegangen bin. Da habe ich ihn gesehen, und anschließend habe ich entdeckt, dass die Taschen fehlten.“
Fiete überlegte angestrengt. „Das kann ich mir nicht vorstellen“, murmelte er schließlich.
„Was denn?“
„Na, dass Holler die Taschen geklaut hat. Ich kenne ihn lange genug. Ich werde ihn fragen.“
Der junge Mann schien erleichtert. „Danke!“
*
Nachdem Cornelius Brock den indischen Faustdolch in der Gerichtsmedizin abgegeben hatte, war er nach Nienstedten gefahren. Es war noch nicht zu spät für einen Besuch bei Anton Hollers Tochter und ihrer Familie. Es war immer wichtig, so schnell wie möglich mit allen Personen zu reden, die in irgendeiner Beziehung zu dem Opfer standen. Am Sonntag hatte er darauf verzichtet, um der Familie Gelegenheit zu geben, den Schock zu verdauen.
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