Die Straße selbst war leer. Die Kinder ihres Clans hatten sich überall am Wegesrand zwischen den Büschen verteilt und spielten, je nach Alter – doch immer ziemlich laut – Verstecken, Fangen, Zielwerfen oder Schwertkampf. Letzteren hatte ihr Bruder Medan gerade gewonnen und stolzierte mit hochgerecktem Schwert umher wie der Gockel auf dem Mist. Seine langen kupferroten Haare gaben einen prima Hahnenkamm ab, er krähte sogar recht authentisch. Alle fast-erwachsenen Mitstreiter hielten sich die Ohren zu, bis auf einen. Der hielt sich die Hand mit dem abgebrochenen Holzschwert.
Etwas weiter die Straße hinauf hatte es sich Großmutter Mara mit den anderen alten Leuten unter mächtigen Eichen bequem gemacht. Hanibu saß mitten unter ihnen wie ein junges, schwarzes Schaf zwischen alten, weißen und redete – wie so oft – mit Händen und Füßen. Ab und zu schallte Gelächter herüber, denn Hanibu artikulierte manchmal die Mundart der Hermunduren so verquer, dass am Ende nur unsinniges Zeug heraus kam. Lavinia kannte sich damit aus, weil sie umgekehrt die Sprache der Äthiopier fleißig lernte und daher auf die gleiche Weise ihre dunkelhäutige Freundin zum Lachen brachte.
Die einzigen, bei denen es sehr ruhig zuging, waren die Frauen mit kleinen Kindern, die noch nicht schnell genug weg krabbeln konnten. Dort saß ihre Mutter, Flora, und tat so, als würde sie sehr aufmerksam ihre Schwiegertöchter, Noeira und Taberia, sowie Enkeltöchter, Belisama und Armanu, betrachten. Ihre wahren Absichten verbarg sie hinter üppig herabwallendem Kupferhaar. Lavinia hatte schon fünf Jahre geübt, diesem getarnten Kontrollblick zu entkommen und tat so, als würde sie die Mittagssonne blenden.
Mit der Hand über den Augen drehte sie sich wieder zu Robin um.
„Nun, ja … Wann werden unsere Leute endlich da sein. Gute Frage. Also: Der letzte Hörnerklang kam vom Schleidsberg und sie sind ja nicht so schnell, weil sie im Tross ziehen. Also Geduld, Robin, Geduld. Es dauert nicht mehr lange. Mama hat gesagt, die Zeit des Hoffen und Bangen ist vorbei!“
„Den Göttern sei Dank! Meine Mama heult nachts lauter als meine kleine Schwester!“
„Wem erzählst du das?!“, seufzte Lavinia und setzte sich ins Gras. „Immerhin habe ich die ganze Zeit neben Noeira gelegen! Du schläfst ja bei Medan! Ich bin froh, wenn ihr endlich wieder in euer eigenes Haus zieht.“
„Nichts lieber als das, Medan zieht mir immer die Decke weg! Was meinst du, Lavinia? Wird mein Papa seinen Arm je wieder gebrauchen können? Königin Elsbeth hat gesagt, er hätte einen schlimmen Schwerthieb abbekommen und Onkel Tarian hat es extrem am Bein erwischt.“
„Nur keine Sorge, Robin. Meinen großen Brüdern geht es bestimmt gut! Schließlich haben sie die beste Ärztin dabei, die es hierzulande gibt. Viviane flickt alles wieder zusammen, es sei denn, der Kopf ist ab.“
Robin verzog das Gesicht und fasste sich an den Hals.
„Königin Elsbeth hat gesagt, unser Clan hätte nur vier Krieger verloren, aber es gab viele Verwundete. Im Allgemeinen hätten sämtliche Hermunduren-Clans jedoch großes Glück gehabt.“
„Dieses Glück heißt Viviane. Sie hat schließlich alles zum Guten gewendet. Sie hat die Späher der Chatten in eine Falle gelockt und sie hat unserem Amaturix geholfen, als er gegen die Könige der Chatten gezogen ist. Die Beiden haben heroisch gekämpft und unserem Hirschclan enorm viel Ehre gebracht. Sie sind unsere Helden, die Helden des geeinten Großkönigreiches der Hermunduren.“
„Genau. Wir Hermunduren haben die große Salzschlacht im hercynischen Wald gewonnen. Wir Hermunduren haben von den Göttern das Salz geschenkt bekommen. Wir Hermunduren sind die Hüter ihres weißen Goldes. So war es, so ist es, so wird es auch bleiben. Unser Land steht den Göttern am nächsten und deshalb haben die berühmt-berüchtigten Chatten jetzt Respekt vor uns ehrbaren Hermunduren.“
„Garantiert. Aber nur vor denen, die ordentlich schreiben können, besonders, wenn sie aus dem ehrenhaften Hirschclan kommen.“
Demonstrativ verdrehte Lavinia ihren Arm und tippte sich auf den Rücken, den sie schön krumm zum Buckel formte. Hinlegen tat sie sich nicht, verschränkte aber wenigstens die Hände vor den Knien und stützte ihr Kinn darauf ab.
Robin seufzte ergeben, klemmte sich die Zungenspitze zwischen die Zähne und malte auf ihren gesamten Rücken ein …
„T, griechisch Tau wie Teller, Tasse oder Tarian. Jetzt haben wir alle durch, die von unserer Familie in die Schlacht ziehen mussten. C wie Conall und V wie Viviane haben wir ja schon vorhin mit Steinchen gelegt.“
„Einen hast du noch vergessen!“
Robin malte wieder hochkonzentriert.
„Ach ja! Da hast du natürlich recht, Robin! L, griechisch Lambda wie Lamm, lesen oder Loranthus. Aber eigentlich war unser Loranthus ja nicht richtig in der Schlacht dabei, weil er ein Grieche ist und kein Hermundure. Er ist unser Gast, und Gäste dürfen nur von Weitem zusehen.“
„Aber er könnte einer von uns werden, Lavinia! Immerhin hat er sich in Elektra verliebt und Elektra sich auch in ihn!“
„Richtig. Wenn Loranthus eine Königstochter ausschlägt, und auch noch eine solche Schönheit wie Elektra, wäre er wirklich ein Dussel. Dümmer geht’s schon gar nicht mehr.“
In Anbetracht dieser potentiellen Fehlentscheidung verzog Lavinia schon einmal geringschätzig das Gesicht. Robin hingegen wiegte den Kopf, als pendele er selbst zwischen dem Leben eines Königs und dem eines Seefahrers hin und her.
„Ich weiß nicht, Lavinia … Großmutter Flora sagt, er könnte dann kein Händler mehr werden wie sein Vater! Er käme nie mehr in seine Heimat, diese herrliche griechische Insel, Kreta!“
„Da hat meine Mutter vollkommen recht, Robin. Großmutter Mara sieht das als seine schwerste Entscheidung an, immerhin ist Loranthus der Spross einer uralten und enorm reichen Händlerdynastie.“
„Da hat meine Urgroßmutter Mara vollkommen recht, Lavinia. Medan hat sie übrigens belauscht, als sie gerade über seine Sklavin Hanibu geredet haben. Er hat sich doch tatsächlich auf eine Wette mit mir eingelassen.“
Lavinias Kopf ruckte hoch und bis zum Anschlag herum.
„Hanibu mag die Sklavin von Loranthus sein, aber sie ist auch unsere Freundin, Robin!“, schnaubte sie tadelnd, um ihre wahre Absicht zu kaschieren, doch der lauernde Ausdruck in ihren Augen sagte alles. „Um was hat mein jüngster Bruder mit dir gewettet?“
„Kannst du schweigen?“
„Selbstverständlich!“
„Siehst du, ich auch!“
„Ts, dann eben nicht“, winkte Lavinia verächtlich ab und säuselte einen Wimpernschlag später: „Aber wir zwei könnten ja auch eine Wette abschließen, Robin!“
„Gut. Warum nicht.“
Ihr Blick bekam sofort einen geschäftsmäßigen Ausdruck.
„Also. Ich wette mit dir um einen Kieselstein meiner Wahl, dass Loranthus und Hanibu hier bei uns Hermunduren bleiben.“
„Dann halte ich dagegen und wette mit dir um einen ausgetrockneten Frosch meiner Wahl, dass Loranthus mit Hanibu zurück nach Kreta reist.“
„Wette angenommen!“, sagte Lavinia und verrenkte sich, um Robin mit feierlicher Miene die Hand zu schütteln.
Robin drückte fest zu und schob sie sorgsam in Richtung ihrer Füße zurück; ein bisschen schräger drücken, noch schräger nach unten, Übergewicht ausnutzen, Achtung! Drache fällt! Füße hinten … festhalten! Und mit Schwung auf das Hinterteil! Drache fixiert!
Triumphierend reckte Robin die Finger in die Luft und … fing wieder an zu malen. „Mama …“, rief Lavinia sofort und schmiegte sich ins Gras, als hätte sie sowieso dorthin gewollt.
„Nein, Lavinia! Doch nicht M wie Mama! Es ist doch ein N wie Noeira! Wie meine Mama!“
Lavinia presste ihr Ohr ins Gras und zischte: „Lass mich doch ausreden! Ich wollte sagen: Mama hat recht gehabt. Sie kommen.“
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