Boris hatte keine Zeit verloren. Denn er wusste, dass die Angelegenheit drängte. Er war als umsichtig bekannt, versuchte die Zukunft zu antizipieren und hatte seinen Chef schon zahlreiche Male damit überrascht, ihn verblüfft, wie schnell die Organisation handlungsfähig war. Aber einen Einbruch beim BKA, wie hätte er den voraussehen und vorbereitende Maßnahmen treffen können? Aber er hatte. Natürlich hatte er keine Baupläne, Schlüssel oder Zugangscodes. Aber einen Informanten, den hatte er. Und er war, rückblickend betrachtet, gar nicht teuer gewesen. Gestern hätte Dimitri die Angelegenheit wahrscheinlich noch anders beurteilt. Was Boris durchaus hätte nachvollziehen können, denn wenn du jeden Monat 1000 Euro an jemanden zahlst und keinerlei Gegenleistung dafür bekommst, dann sieht das erst einmal nach einer schlechten Investition aus. Das war im Übrigen nicht die einzige Position dieser Art in ihrem Budget. Und viele dieser Positionen hatte er in der Vergangenheit gegenüber Dimitri verteidigen müssen. Was meist schwierig war, denn wenn man Geld für Vorsorge ausgibt, hat man erst einmal nichts davon. Jetzt etwas geben, um später vielleicht davon zu profitieren, fällt vielen schwer. Er hatte immer damit argumentiert, dass diese Positionen wie Versicherungen zu betrachten sind. Dargestellt, dass man jetzt ein wenig gibt, um später im Bedarfsfall den Schaden zu minimieren. Aber eine solche Argumentation bleibt natürlich immer hypothetisch. Es sei denn, du bekommst einen Präzedenzfall. Und den hatte Boris jetzt.
„Nein, Du suchst ihn noch heute auf und erklärst ihm, was wir erwarten. Und morgen Abend habe ich das Ergebnis. Als Erstes möchte ich nur wissen, wer sich um den Fall kümmert. Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt“, sprach Boris in die Muschel seines Telefons. „Morgen Abend“, setzte er fort, nachdem er einige Sekunden schweigend zugehört hatte. „Mach ihm klar, dass wir es nicht dabei belassen, die Zahlungen einzustellen, wenn er nicht pünktlich liefert.“
Bevor sein Gesprächspartner noch weitere Erläuterungen geben konnte, um ein potenzielles Scheitern zu rechtfertigen, beendete Boris einfach das Gespräch. Solche Menschen konnte er nicht leiden. Die, anstatt zu überlegen, wie man erfolgversprechend vorgehen könnte, gleich tausend Gründe suchten und erläuterten, die zum Scheitern führen konnten. Was machte das denn für einen Unterschied? Am Ende zählte immer nur das Ergebnis. In allen Organisationen. Natürlich hatte ein Scheitern in ihrer Organisation meist besonders unangenehme Konsequenzen für die Verantwortlichen. Aber das wussten sie alle, im Voraus. Und außerdem hatten sie bei der Umsetzung ihrer Maßnahmen auch mehr Möglichkeiten, wurden nicht durch Gesetze oder Vorschriften unnötig eingeengt. Morgen Abend würde er mit den notwendigen Informationen beliefert, um sie am Morgen darauf dem Consultant liefern zu können. Er war mit sich zufrieden und auch Dimitri und der Consultant würden mit ihm zufrieden sein.
Das war die Art von Arbeit, die er liebte. Vor Ort schnüffeln, mit Menschen reden, Verdächtige und Zeugen befragen, rhetorische Fallen stellen und sich Tatorte und Umgebungen ansehen. Oder nach Tatorten suchen, so wie er es im Augenblick tat. Seit zwei Stunden streifte Hauptkommissar Strecker jetzt schon durch die Kölner Innenstadt, durch die nördliche Innenstadt um genau zu sein, durch die Gegend um den Ebertplatz. Wenn sich ein Rudel junger Menschen trifft, um eine Straftat zu begehen, ist es doch unwahrscheinlich, dass sie sich an einem Ort treffen, der nichts mit dem eigentlichen Zielort zu tun hatte. Sie konnten ja schlecht mit den Öffentlichen zum vorgesehenen Tatort fahren, riskieren aufzufallen oder von den Kameras in den Fahrzeugen aufgenommen zu werden. Nein, der Ort, den er suchte, musste hier ganz in der Nähe sein. Aber es ist schwierig etwas zu finden, wenn man eigentlich gar nicht weiß, wonach man sucht. Neben dem sich entwickelnden Frust, ob seiner Erfolglosigkeit, machte ihm auch die Kälte zunehmend zu schaffen. „Jetzt mal analytisch“, ermahnte er sich gedanklich selbst. „Wenn eine solche Horde junger Menschen aktiv wird, bleibt das doch nicht unbemerkt. Das wird hektisch, das wird laut, das muss doch jemandem auffallen. Dadurch fühlt sich doch irgendjemand gestört. Und vielleicht hat sich dieser Jemand beschwert.“
Strecker kramte mit klammen Fingern sein Handy aus der Manteltasche und wählte eine ihm mehr als vertraute Nummer.
„HK Garber“, kam aus dem Lautsprecher.
„Strecker hier“, antwortete er. „Ich wildere in Ihrem Revier und brauche Ihre Hilfe. Genau genommen suche ich den Ort an dem Marc Johann und seine Kumpanen aktiv geworden sind. Könnten Sie mal die Leitstelle anrufen und nachfragen, ob in der Nähe des Ebertplatzes, sagen wir mal im Radius von einem Kilometer und innerhalb einer Zeitspanne von vielleicht zwei Stunden nach dem beobachteten Treffen, irgendwelche Meldungen eingegangen sind? Notrufe, Beschwerden über Ruhestörungen, einfach alles. Bitte schicken Sie mir das Ergebnis auf mein Handy.“
„Gut“, antwortete die Hauptkommissarin. „Ich kümmere mich gleich darum. Brauchen Sie Unterstützung?“
„Danke, nein“, sagte er. „Ich werde hier nicht verloren gehen. Höchstens erfrieren, wenn es zu lange dauert.“
„Das ‚Café Schmitz‘ soll geheizt sein“, bemerkte Frau Garber. „Es sollte aber nicht lange dauern. Ich melde mich.“
„Danke. Ich warte. Voller Ungeduld“, antwortete er, beendete das Gespräch und spazierte, mit hochgezogenem Mantelkragen den Ring herunter, Richtung Café. „Wirklich schön warm“, dachte er, nachdem er das Café betreten hatte. Strecker fand einen freien Platz an einem Tisch mit Fensterblick, öffnete den Mantel und ließ sich in den bequemen Stuhl fallen. Während er auf seinen Kaffee, schwarz und ohne Zucker wartete, blickte er gedankenverloren aus dem Fenster. „Irgendwo dort draußen liegt der Anfang zu der Spur zu Marc Johann“, sinnierte er. „Jetzt fange ich auch schon an mit dem Smartphone zu spielen, meine Zeit mit dem Betrachten von unnützen Bildern und unnötigen Nachrichten zu vergeuden“, dachte er und legte das Handy, mit dem er fast unbemerkt zu hantieren begonnen hatte, neben die Kaffeetasse auf den Tisch.
Doch besser fühlte er sich nicht. Das Warten zerrte an seinen Nerven. Geduld war noch nie seine Stärke gewesen. In seinen Gedanken ging er immer wieder durch die Gegend rund um den Ebertplatz. Wozu braucht man eine Gruppe von Jugendlichen?
Er hatte keinen Schimmer. Keine diskrete Aktion, wie die Beschädigung eines geparkten Fahrzeugs. Kein Anschlag auf eine Person. Das hätte zu viel Aufmerksamkeit erregt. Was es auch war, es musste sich irgendwo innerhalb eines Gebäudes abgespielt haben.
Ein „Ping“ seines Handys riss ihn aus seinen Überlegungen. Er griff sich das Telefon, öffnete die Nachricht und hatte die Lösung. Strecker erhob sich, knöpfte den Mantel zu, warf drei Münzen auf den Tisch, verstaute das Handy in der Manteltasche und stürmte grußlos aus dem Café. Er war sich sicher, musste das aber noch verifizieren, nicht für seine Überzeugung, sondern für die Kollegen. Bis in die Sudermannstraße waren es nur zwei Minuten. Genauso wie es auch nur zwei Minuten vom Ebertplatz zur Sudermannstraße waren. Dann stand er auch schon vor dem „Queens“, einem Lokal mit wechselhafter Geschichte, mit wechselnden Besitzern und wechselnden Angeboten. Aktuell war das Angebot auf den anspruchsvollen Gentleman ausgerichtet und die Besitzer waren, wenn man den einschlägigen Gerüchten glaubte, Mitglieder der russischen Mafia. Und ohne noch mit dem Bewohner aus dem gegenüberliegenden Mietshaus, der ungewöhnlichen Lärm am Tatabend gemeldet hatte, sprechen zu müssen, waren nun zwei Dinge klar. Erstens: Der Club war wegen Renovierung geschlossen. Wahrscheinlich war er durch einen Überfall beschädigt worden. Zweitens: Der Überfall war nicht angezeigt worden. Folglich gehörte der Club jemandem, der an Ermittlungen der Polizei nicht interessiert war. Vielleicht auch deshalb, weil er etwas mit dem Verschwinden von Marc Johann zu tun hatte. Vielleicht, weil der Junge dabei helfen sollte, die anderen am Überfall Beteiligten zu finden. Was auch den Einbruch bei den Johanns erklären dürfte. Das Puzzle fügte sich zusammen. Ein Teil jedoch würde aber künftig mit Sicherheit nicht mehr dazugehören. Sofern seine Theorie richtig war, musste man davon ausgehen, dass sie Marc Johann nicht mehr lebendig auffinden würden. Und seine Mutter war wahrscheinlich ein weiteres, auf ewig fehlendes Puzzleteil.
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