Leo war der Consultant. Ein Titel, den er sich dadurch verdient hatte, dass er für jedes Problem eine Lösung fand. Nicht, weil er ein Könner in einer oder mehreren Disziplinen war. Das traf auf Leo nicht zu. Er war der Mann für alle Fälle. Er war auch Dimitris Mann für alle Fälle. Und im Moment hatte er wieder einen solchen Fall.
Dimitri war der Botschafter. Der Botschafter der russischen Mafia für die Bundesrepublik Deutschland.
„Dieser Überfall ist ein schwerwiegendes Problem für mich“, räumte Dimitri ein. „Nicht, dass viel kaputtgegangen wäre. Und selbst wenn. Das lässt sich reparieren, das braucht nur ein wenig Zeit und eine angemessene Menge Geld. Aber der Reputationsschaden, den dieser Vorfall verursacht hat, der lässt sich nicht so einfach mit Geld reparieren. Das schadet unserem Ansehen, das gefährdet unser Geschäft, das ermutigt unsere Konkurrenten. Und wenn unser Geschäft gefährdet ist, bin auch ich gefährdet. Ich habe meine Vorgaben. Auch ich bin nur ein ausführendes Organ. Und wie für jedes Organ gilt auch für mich: Fehler werden nicht toleriert. Und für den Botschafter gilt, dass er, wenn er die Ziele nicht erreicht, abberufen wird. Und Leo, Du weißt was das bedeutet, wenn der Botschafter abberufen wird. Der Ruf bedeutet das Aus. Und häufig nicht nur im geschäftlichen Sinn.“
„Und was erwartest Du von mir?“, fragte Leo.
„Leo. Ich möchte wissen, wer das war. Wer das gemacht hat und wer das beauftragt hat. Und ich möchte das bald wissen, sehr bald.“
„Das wird nicht billig“, startete der Consultant.
„Leo“, unterbrach ihn der Botschafter. „Ich kenne Deinen Preis. Und ich gehe davon aus, dass Du meine Situation nicht als Notlage betrachtest, die Du ausnutzen kannst.“
„Nein. So meine ich das nicht“, antwortete der Consultant. „Wir werden investieren müssen. In Technologie, externen Sachverstand und Informanten. Wir müssen in Regionen forschen, in denen wir nur begrenzte Erfahrungen und Freunde haben.“
„Etwas hat uns der Junge, den wir geschnappt haben, ja schon verraten“, setzte Leo fort, nachdem ihn der Botschafter nur fragend angesehen hatte. „Er hat den Auftrag über das Internet bekommen. Das Darknet, um genau zu sein. Er wurde dort online rekrutiert, hatte nur online Kontakt mit seinem Auftraggeber und hat auch seinen Auftrag auf diesem Weg bekommen. Und daher werden wir im Internet nach den Antworten auf Deine Fragen suchen müssen. Deine Hausaufgaben hast Du schon gemacht?“, wandte sich der Consultant an den Botschafter.
„Natürlich. Die Videos aus dem Club haben wir ausgewertet, allerdings keine brauchbaren Hinweise erhalten. Hereingekommen sind sie durch die Tür. Ob der Doorkeeper mit ihnen gemeinsame Sache gemacht hatte oder nur unaufmerksam war, haben wir bereits recherchiert. Er wurde verhört. Ich denke, er hat sich nur überrumpeln lassen. Daher bekam er einen schnellen Tod. Auch den Sicherheitschef haben wir entsorgt. Er hatte einen Mann an die Tür gestellt, von dem wir kein Pfand in der Heimat hatten. Keine Eltern, Geschwister, Kinder, Frau, Freundin, nichts. Ein nicht entschuldbarer Fehler. Alle anderen, die dort beschäftigt waren, sind in die Heimat versetzt worden, die Mädchen haben wir weiter verkauft, nach Südeuropa. Aber wir kennen von allen den Aufenthaltsort, falls Du noch mit einer von ihnen sprechen willst. Aber setze nicht zu viele Hoffnungen da hinein. Wir waren schon gründlich. Aber Du hast gesagt, er hat sie online rekrutiert und geführt. Wie geht das denn?“
„Es hat mich auch überrascht. Das war auch für mich neu. Zumindest in diesem Zusammenhang. Online-Rekrutierung? Okay! Aber für die Verpflichtung und Steuerung von Gesetzesbrechern? Das scheint mir wirklich neu. Und wir müssen herausbekommen, wie er das macht, wie das funktioniert. Vielleicht lernen wir ja auch noch was für unser Geschäft. Mafia 2.0. Aber erst müssen wir investieren. Wie ich Dir schon gesagt hatte.“
„Ich gebe Boris Bescheid. Sag ihm, was Du brauchst. Er wird sich darum kümmern.“
Das war nun also sein neues Leben. Stundenlang durch die feuchte Kälte latschen. Kaum jemand sonst schien sich dies anzutun, jedenfalls war die Gegend beinahe menschenleer. Was konnte man auch erwarten, es war ein lausiger Novembermorgen in Köln, in einer Gegend, in der man um diese Tageszeit nicht viel zu erwarten hatte. Für Party zu spät, zum Shoppen zu früh. Eigentlich war es schön, zumindest war es anders, als er es sonst kannte. Natürlich war er schon hier gewesen, hundertmal, tausendmal, wer zählt das schon. Zu Zeiten, in denen die Straßen gut frequentiert waren, manchmal so gut, dass es fast kein Durchkommen gab. Doch irritierender als die Leere war die Stille. Nichts, außer von leise und aus der Ferne kommendem Gemurmel, Gebrumme und Geklapper, verursacht durch die Straßenreiniger und ihre Maschinerie, war zu hören. Er schlug den Kragen hoch und die Mütze tiefer in das Gesicht, konnte aber die Kälte nicht aussperren. Mehr als eine Stunde schlich er nun schon um die Häuser. Doch er kämpfte nicht nur gegen die Kälte und die Müdigkeit, da war mehr, da war noch Angst. Der Meister hatte ihn instruiert, dass sie kommen würde, ihn beruhigt, dass sie unnötig wäre und ihm gesagt, wie er sie bekämpfen sollte. Leicht gesagt, leichtgläubig gehört. Schwer getan. Die Angst erwischt zu werden, war nicht das dominierende Kriterium. Nein, die Angst zu versagen, ließ ihn zittern, ließ ihn zaudern. Er hatte nur diese eine Chance, sein Leben zu ändern, ihm einen Sinn zu geben, Teil von etwas Großem zu werden. Diese Gedanken gaben ihm den entscheidenden Impuls.
Er beschleunigte seine Schritte. Noch zwanzig Meter. Seine Hand umklammerte den Gegenstand, den er schon die ganze Zeit in seiner Jackentasche verborgen hatte. Noch fünfzehn Meter. Sein Atem ging schneller, seine Sinne fokussierten sich nur auf das Eine, auf das Ziel. Seine Umwelt nahm er nur noch am Rande wahr, als wenn sie in einer Schneekugel gekapselt wäre. Noch zehn Meter. Seine Hand packte den Gegenstand in seiner Tasche noch kräftiger, sodass seine Finger förmlich schmerzten. Er beschleunigte nochmals, brachte sich auf Angriffsgeschwindigkeit. Noch fünf Meter. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er zog seine rechte Hand aus der Tasche. Dazu musste er den Griff um den Gegenstand etwas lockern. „Verliere ihn bloß nicht“, ermahnte er sich selber. Alles gut. Er hob den Arm. Den Gegenstand nun wieder fest in der Hand umklammert, fixierte das Ziel, bewegte den Arm mit maximaler Geschwindigkeit Richtung Ziel und ließ den Gegenstand zum exakt richtigen Zeitpunkt los. So wie er es trainiert hatte, immer wieder. Ein ohrenbetäubender Knall, gefolgt von einem infernalischen Scheppern rief ihn zurück in die Realität. Er hatte die Scheibe mit dem Stein ziemlich genau in der Mitte getroffen. Die Aufschlaggeschwindigkeit und das Gewicht waren völlig ausreichend gewesen. Der Stein hatte ein mehr als faustdickes Loch in die Scheibe geschlagen, die darauf gesplittert war und sich in unzählige Bestandteile zerlegt hatte, deren Kontakt mit dem Boden das Scheppern verursacht hatte.
„Nichts wie weg!“, sagte er zu sich selbst, drehte sich nach rechts und rannte, so schnell er konnte. Er nahm den ersten Abzweig, den er erreichte, es ging nach rechts, aber die Richtung war ihm egal. Er wollte nur aus dem Sichtfeld des Tatorts heraus. Was ihm gelang, auf dem Weg, den er sich vorher ausgeguckt hatte. So wie der Meister es ihm empfohlen hatte. Noch ein kurzer Sprint in den nächsten Abzweig nach links, dann verlangsamte er sein Tempo. Er war weit genug weg, drehte sich sicherheitshalber nochmals um, um festzustellen, ob er verfolgt wurde. Nein. Dann galt es nun nur noch nicht aufzufallen. Erst jetzt registrierte er, dass sein kleines Herz scheinbar bis zum Hals schlug. Doch das beruhigte sich schnell, der Blutdruck sank mit jedem Schritt. Genauso wie sein Stolz mit jedem Meter wuchs, den er sich mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht weiter vom Tatort entfernte. „Gut!“ Es war nur eine kleine Aufgabe gewesen. Aber er hatte die Mission erfolgreich abgeschlossen, sich als verlässliches Mitglied der Gemeinschaft gezeigt und sich für weitere Missionen empfohlen.
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