„Aber wie finden die Interessenten denn die Inhalte?“, fragte Frau Garber nach. „Die haben doch auch, zumindest am Anfang, das Problem, dass sie vor einem Universum von Möglichkeiten stehen und nicht wissen, wo sie hinmüssen.“
„Ganz archaisch“, antwortete der Experte. „Einerseits über Flüsterpropaganda. Innerhalb der Interessengruppen gibt es Bekanntschaften, in der Regel natürlich nur über ihre Avatare, wo der eine dem anderen Tipps oder Empfehlungen gibt. Darüber hinaus gibt es Chatgruppen, Foren und sogar Marktplätze für bestimmte Güter. Wenn man einmal drin ist, ist es einfach. Deshalb ist eine der klassischen Ermittlungsmethoden auch hier die Einschleusung von V-Leuten oder einfach mitzuspielen, sich also als Käufer für bestimmte Artikel auszugeben.“
„Aber irgendwann muss doch Ware geliefert und bezahlt werden?“, hakte die Hauptkommissarin nach.
„Hier kommen Kryptowährungen, wie Bitcoin und Treuhandbörsen in das Spiel“, erläuterte Kommissar Marten. „Der Käufer kauft, hinterlegt einen bestimmten Betrag in einer Kryptowährung beim Treuhänder, der das Geld erst für den Käufer freigibt, sobald der Käufer die Ware erhalten hat. Die eigentliche Lieferung erfolgt über den Postweg. Um Zufallsfunde oder Pannen bei der Übergabe an den Käufer zu minimieren, kommen vermehrt auch Paketboxen in das Spiel, in die der Verkäufer liefern lässt und aus denen sich der Käufer die Ware später abholt.“
„Und was hat das konkret mit unserem Fall zu tun?“, wollte Strecker nun wissen.
Kommissar Marten hatte Mühe seine Verwunderung in den Griff zu bekommen. Ein Stirnrunzeln konnte er angesichts der aus seiner Sicht naiv anmutenden Frage nicht vermeiden. Immerhin gelang es ihm ruhig und sachlich zu antworten. „Nun der Führer der Gruppe nutzt das Darknet für die Steuerung der Mitglieder. Er hinterlässt Nachrichten für die Mitglieder in im Darknet hinterlegten Dateien. Auch die Chaträume dort nutzt er. Wir haben zwar keine dieser Dateien gefunden, da er sie offenbar recht kurzfristig wieder löscht, wissen aber durch die auf dem Computer des verschwundenen Jungen gefundenen Informationen, dass sie existiert haben müssen. Was wir nicht wissen, aber vermuten, ist, dass er auch mit den Kunden der Gemeinschaft über das Darknet kommuniziert. Wahrscheinlich irgendwo über einen Shop seine Leistungen anbietet, Aufträge erhält und wahrscheinlich auch den Zahlungsverkehr abwickelt.“
„Fragen?“, hakte Kommissar Marten nach, „Wenn nicht, schlage ich vor, dass wir eine kurze Pause machen und uns danach über das Thema Computerspiel unterhalten.“ Als von seinen beiden Zuhörern nur Schweigen als Antwort kam, stand er auf und sagte: „Dann machen wir jetzt 15 Minuten Pause“ und verließ das Büro.
„Du bist verrückt! Das ist doch Wahnsinn!“
„Nur weil es schwierig scheint, können wir das Naheliegende nicht sein lassen!“
„Aber beim BKA einbrechen“, setzte Boris mit einem ungläubigen Kopfschütteln fort. „Wie sollen wir das denn bewerkstelligen? Die hocken doch in einer Festung, die sind doch gegen alles abgesichert.“
Boris war der operative Chef der russischen Mafia in der Bundesrepublik. Er war zuständig für die Verwaltung der Finanzen, die Führung der laufenden Geschäfte und für das Personal. Seine Aufgaben- und Machtfülle war immens. Verglich man die Mafia mit einem normalen Konzern, war er CFO, COO und HR-Leiter in Personalunion. Und das immerhin in einer Organisation mit mehreren tausend Mitarbeitern. Und da er diese Aufgaben schon seit einigen Jahren erfolgreich meisterte, in einer Organisation, die Fehler nicht tolerierte, war man gut beraten, seine Meinung ernst zu nehmen.
Der Consultant wusste das. Er schätzte den kleinen, korpulenten Mann. Boris war höchstens 1,65 Meter groß, brachte dafür aber wahrscheinlich um die 100 Kilo auf die Waage. Da sich die Mehrheit seiner Kilos in Hüfthöhe befand und dann nach unten wie oben abnahm, drängte sich das Bild einer Kugel förmlich auf. Nein, zwei Kugeln, denn auf der größeren unteren Kugel jonglierte er eine zweite kleinere, mit einem kleinen, mit erstaunlich vollen Lippen umrahmten Mund, einer kleinen, spitz zulaufenden Nase und zwei ebenfalls kleinen, wachen, braunen Augen. Seine erstaunlich buschigen, tiefschwarzen Augenbrauen konnten das fehlende Haupthaar über seiner hohen Stirn allerdings nicht kompensieren. Nur an den Seiten des Kopfes sprossen noch Haare, allerdings in zunehmendem Grau, das seine ehemals pechschwarzen Haare mehr und mehr verdrängte.
„Sie haben das, was wir brauchen“, setzte Leo fort. „Was wir unbedingt brauchen, weil es unsere letzte Spur sein dürfte. Alle anderen Möglichkeiten hat Dimitri schon durch seine Untersuchungen ausgeschlossen. Also bleibt uns nur das digitale Vermächtnis des Jungen.“
„Und wie hast Du Dir das vorgestellt?“, fragte Boris und legte seine hohe Stirn in Falten.
„Da bin ich offen für Vorschläge“, spielte der Consultant den Ball mit einem Lächeln zurück.
„Da Du mich mit Deinem Vorhaben zugegebenermaßen überrascht hast, muss ich darüber noch nachdenken. Bevor wir uns da festlegen, sollten wir auch noch Erkundigungen einziehen. Wir müssen uns den Laden erst ansehen, Sicherheitseinrichtungen, Zuständigkeiten und den ganzen Kram. Wir sind ja nicht die Polizei, können da nicht mit einem Durchsuchungsbeschluss einmarschieren, die Bude auf den Kopf stellen und mitnehmen, was uns interessiert.“
„Wie lange wirst Du brauchen?“, fragte Leo.
„Keine Ahnung. Und erspare uns Deine Vorgaben oder Wünsche“, ergänzte Boris mit leicht angehobener Lautstärke, als der Consultant ansetzte ihn zu unterbrechen. „Ich weiß, dass wir es eilig haben. Deshalb verschwinde jetzt und lass mich meine Arbeit machen. Du bekommst Bescheid, sobald ich genügend Informationen habe. Es war mir ein Vergnügen.“
„Ich erwarte Deinen Anruf“, sagte der Consultant. Er erhob sich, reichte Boris die Hand über den sie trennenden Schreibtisch und verließ den Raum.
Endlich! Er hatte gefühlt schon mindestens fünfzigmal in dem geheimen Briefkasten nachgesehen. Der Meister war nervös gewesen, hatte Zweifel gehabt, wusste, dass er sich nicht die eigentlich notwendige Zeit bei der Auswahl genommen hatte. Musste er den Neuen auch abschreiben, genauso wie diesen Marc Johann? Denn der würde nicht mehr zurückkommen. Nachdem er Tage auf ein Lebenszeichen gehofft hatte, musste er jetzt hoffen, dass Marc tot war und sein Geheimnis, ihr Geheimnis mit in sein Grab genommen hatte. Das war schade. Weil er Potenzial in dem Jungen gesehen hatte. Drei Aufträge hatte er für ihn schon ausgeführt. Richtige Aufträge, keine Probearbeiten, kein bloßes Einwerfen der Scheibe eines Ladenlokals, wie es der Nachfolger heute Morgen machen sollte. Aber immerhin hatte der Nachfolger die regionale Lücke geschlossen. Das war auch ein Parameter bei der Auswahl seiner Gefolgsleute, die Regionalität. Er versuchte mit seinen Jüngern, ein die Bundesrepublik möglichst überspannendes Netz zu bekommen. Das vermied lange Reisen. Nicht, dass es ihm um das Sparen von Reisekosten gegangen wäre. Die zahlten seine Gefolgsleute selber. Aber Auswärtseinsätze waren langwieriger in der Vorbereitung. Natürlich wollten und sollten, die mit der jeweiligen Ausführung der Taten beauftragten Jünger sich die Ausführungsorte vor der Tat ansehen. Nach Deckungen und Fluchtmöglichkeiten suchen, möglichst gute Zeiten für die Durchführung ausbaldowern. Insbesondere letzteres konnte, zum Beispiel wenn Personen das Anschlagsziel waren, schon einiges an Beobachtungszeit erfordern. Um die Lebensgewohnheiten der Zielpersonen kennenzulernen, mussten sie beschattet werden. Und das war nicht einfach für einen Jugendlichen in einer fremden Stadt, insbesondere, wenn er morgens zur Schule musste. In seiner Heimatstadt.
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