Theobald blickte ihr vom Fenster aus noch lange nach. Wer war diese Frau? Die Zutaten, der Zeitpunkt, die Mengen – alles verdächtig. Sie beherrschte den gleichen autoritären Tonfall wie seine Mutter. Er hatte sie beim Anleuchten magisch gescannt, aber sie hatte eine ganz normale menschliche Aura gehabt. Inzwischen war er sich sicher, dass sie sich etwas ganz anderes bei der Behauptung, sie wisse, was er nachts tat, gedacht hatte. Immerhin hätte sie die Jodflecken an seiner linken Hand bemerken oder die Dämpfe an seiner Kleidung riechen können. Das hatte sie nicht, aber als sie vor ihm stand, hatte er es mit der Angst zu tun bekommen und lieber eingelenkt. Nun würde er die Bücher fälschen müssen, damit die vorrätigen Mengen wieder stimmten. Das Silbernitrat war jetzt fast alle. Aber die Frau hatte so verzweifelt auf ihn gewirkt, dass er nicht anders gekonnt hatte, als ihr zu helfen. Er hatte ihr keine Sekunde geglaubt, dass sie die Zutaten für ein Blattläusemittel brauchte. Dafür reichte ein Teebaumöl-Wasser-Gemisch mit etwas Spülmittel. Was hatte die Frau nur vor? Er zuckte die Schultern, als er die Haupttür verriegelte und sich wieder Richtung Keller wandte. Für heute würde er aufhören. Übermorgen früh kam seine Mutter wieder aus Berlin. Sie hatte zu seiner großen Freude noch einige Tage dranhängen müssen. Er hatte sein Glück gar nicht fassen können, aber jetzt war er froh, dass sie bald wiederkam. Etwas Merkwürdiges ging in Clausthal vor. Erst diese Ausbrüche unkontrollierter Magie und dann diese Frau mit ihrem Nachteinkauf. In der Zeitung stand, dass in der letzten Woche wieder Schafe gerissen worden waren. Da war es gut, seine Mutter wieder hier zu wissen. Sie würde mit Bedrohungen aller Art mühelos fertig werden.
Nachdem er alles wieder aufgeräumt, den Weg zum Nachbarkeller wieder versperrt und die Bücher manipuliert hatte, ging er endlich ins Bett. Die Dämmerung hatte schon lange eingesetzt.
Elisabeth blinzelte. Die Sonne ging gerade auf. Ihr Vater schnarchte leicht neben ihr. Er war am Vortag früher von der Arbeit gekommen, wobei er als Begründung angegeben hatte, ihre Mutter habe ihm aufgetragen, Elisabeth die Medizin zu verabreichen. Dafür hatte Emilia ihn sogar aus einer wichtigen Besprechung geholt. Obwohl Elisabeth beteuerte, dies selbst zu können, hatte er ihr wieder einen ganzen Esslöffel davon eingeflößt.
Nun war die letzte Flasche leer. Was kam dann? Doch als sie sich umdrehte, stand neben ihrem Bett eine neue volle Flasche mit einem Zettel daran.
Bitte wieder einen ganzen Esslöffel nehmen und Flasche einstecken. Verliere sie nicht wieder! Bin schon unterwegs wegen des Klempners. Hole euch zum Mittagessen ab. Seid dann bitte fertig. Mama.
Elisabeth setzte sich schlaftrunken auf und musterte die Flasche. Hatte sie etwa Hoffnung gehabt, irgendwann die Medizin nicht mehr nehmen zu müssen? Am besten sie brachte es gleich hinter sich. Sie nahm die Flasche und den bereitliegenden Löffel und ging ins Bad. Dort füllte sie sich etwas ab und stellte die Flasche wieder weg. Die Farbe sah dunkler aus als sonst. Sie holte tief Luft, schob sich den Löffel in den Mund und schluckte. Das Brennen setzte sofort ein, diesmal in einer solchen Intensität, dass sie unwillkürlich aufkeuchte. Der Löffel entfiel ihrer Hand und sie musste sich mit beiden Händen am Waschbecken festhalten, um nicht umzufallen. Die Wandhalterung knackte bedrohlich. Das Brennen fraß sich bis in ihren Magen und von dort weiter in den ganzen Körper, bis in die Füße und von dort wieder hoch bis in die Fingerspitzen. Sie beugte sich weit nach vorne, spuckte ins Waschbecken und würgte, aber es half nichts. Die Wirkung konnte sie nicht mehr aufhalten. Ihr entfuhr ein langgezogenes Stöhnen, während sie krampfhaft versuchte, nicht ohnmächtig zu werden.
»Hölle, das Zeug ist um einiges stärker als die Medizin von Dr. Borga!« Ihr Puls ging hoch und das Herz schlug ihr bis zum Hals, trieb Schweißperlen auf ihre Stirn. Sie fühlte sich fiebrig. Zu ihrer Verwunderung hörte das Brennen nach ein paar Augenblicken komplett auf. Ihr Körper beruhigte sich wieder.
Elisabeth richtete sich auf und betrachtete sich im Spiegel. Das gleiche Gesicht mit den verwuschelten Haaren blickte sie an. Irgendetwas war anders. Sie warf sich in Pose, schob die Haare etwas hoch und musterte sich und fand sich richtig attraktiv, irgendwie verwegen reizvoll. Ihr Magen knurrte und teilte so vernehmlich mit, dass sie dringend etwas essen sollte.
Sie zog sich eilig an und schlich aus dem Zimmer, in dem ihr Vater immer noch im Bett schnarchte. Sie war schon fast aus der Tür, da fiel ihr die Flasche ein und sie ging zurück ins Bad. Sie wog sie in der Hand und steckte sie nach einigem Zögern in die Ledertasche an ihrem Gürtel. Wegen der Dosierung würde sie mit ihrer Mutter reden müssen.
Für sie als Veganerin gab es am Frühstücksbuffet nicht viel, das sie ohne Bedenken essen konnte. Zu ihrer großen Freude fand sie bei ihrer Ankunft Sojamilch und veganen Brotaufstrich vor. Es gab auch Früchte, also stürzte sie sich aufs Essen. Als schließlich ihr Vater mit Klara endlich nach unten kam, hatte sie Bauchschmerzen.
»Gute Güte, Betsy, was hast du gemacht? Du siehst aus, als würde es dir nicht gut gehen.«
Ihr Vater setzte gleich eine sorgenvolle Miene auf. Die Bedienung, die wegen Elisabeth schon mehrfach hatte loslaufen müssen, um Nachschub zu holen, schüttelte nur den Kopf, als sie mit der Kaffeekanne zu Herrn Wollner trat.
»Wenn Sie mich fragen, bräuchte die junge Dame mal etwas Gescheites zwischen die Zähne, von all dem Grünzeug wird man ja nicht richtig satt.«
Michael Wollner blickte gequält zurück. »Nun, wenn man auf alle tierischen Produkte allergisch ist, bleibt einem nicht viel anderes übrig.« Und zu Klara gewandt: »Nimm du ruhig den Rest von dem Aufstrich, ich muss mich ja nicht an eure Diät halten.« Er stand auf und bediente sich reichlich am Wurstbuffet. Klara und Elisabeth wechselten Blicke.
»Mama wird das nicht gutheißen, dass du dich hier mit totem Tier vollstopfst«, warf ihm Klara vor.
Doch er grinste nur zurück. »Nun, Mama ist momentan mit anderen Dingen beschäftigt. Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß. Wenn du mich nicht verpetzt, dann verrate ich Mama auch nicht, dass du gestern Abend noch den Spätfilm geschaut hast.«
»Woher …?« Doch Klara schluckte die anderen Worte runter. Ihr Vater hatte sie erwischt. Sie nickte nur stumm.
»Dann ist ja alles geklärt«, lachte Michael Wollner und biss herzhaft in ein Brötchen mit einer dicken Schicht Hackepeter mit Zwiebeln. Bei Elisabeth machte sich nun der Darm bemerkbar. Sie entschuldigte sich und eilte auf die Toilette.
Am späten Vormittag packten beide Mädchen die Sachen, nachdem ihr Vater schon lange zur Arbeit gegangen war. Elisabeth schleppte die schweren Koffer alleine nach unten. Die Zimmer mussten heute verlassen werden, also warteten sie am Empfang mit dem Gepäck, bis ihre Mutter auftauchte. Elisabeth wollte gleich mit ihr wegen der neuen Medizin sprechen, aber als sie sie sah und bemerkte, wie völlig fertig diese aussah, verschob sie es auf später.
Erst als sie bei der Neuen Mühle ankamen, ergab sich eine Gelegenheit, weil Klara gleich auf die Toilette musste. Am Auto beim Ausladen der Koffer kam ihre Mutter ihr zuvor.
»Hast du deine Medizin genommen? Wie hat sie gewirkt?«, Frau Wollner nahm ihre Tochter am Arm und blickte sie aufmerksam an.
Elisabeth schaute zurück. Die tiefen Ringe unter den Augen ihrer Mutter waren noch tiefer geworden. Das bestürzte sie. Noch mehr Sorgen wollte sie ihr nicht bereiten.
»Ganz gut«, log sie. »Du siehst fertig aus, Mama. Warum lässt du nicht mich die Koffer reinbringen und du legst dich erst einmal auf die Couch? Ich finde es nicht gut, dass Papa dich die ganze Umzugsarbeit machen lässt, während er nur im Institut abhängt.«
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