Als Frau Grubner eine Stunde später gegangen war, hörte sie ihren Vater rufen. Elisabeth lief zurück und strahlte ihn so überglücklich an, dass ihr Vater, der bis eben noch ein miesepetriges Gesicht gemacht hatte, unvermittelt lachen musste.
»Na, dann haben wir ja wenigstens eine Person hier glücklich gemacht!« Er legte den Arm um seine große Tochter und ging mit ihr zum Auto. »Hier soll es einen guten Asiaten geben. Lust auf Tofu mit Nudeln?«
Elisabeth nickte eifrig.
Emilia Wollner saß bereits im Wagen und redete auf Klara ein. Diese hatte das Auto nicht verlassen. Als Elisabeth mit ihrem Vater zustieg, herrschte ihre Mutter sie an.
»Wo warst du? Wir suchen dich schon ewig!«
»Ich saß hinten am Fluss, nicht weit weg. Es ist herrlich hier, Mama. Kannst du das auch spüren, dieses schwere Kribbeln?«
»Nein, ich spüre nichts!«
Der Blick, den sie erntete, verschlug ihr abrupt die Sprache, denn die Augen ihrer Mutter wurden wieder stechend und hart und die Stimme so kalt, dass Elisabeth kein Bedürfnis mehr hatte, mit ihr zu sprechen. Aber sie sah noch mehr und fühlte es. Ihre Mutter log sie direkt an.
Die ersten Tage im Hotel Krone fühlten sich fast wie Urlaub an. Clausthal-Zellerfeld bestand aus zwei zusammengewachsenen Bergarbeiterstädten, und es gab viel zu entdecken. Michael Wollner verschwand frühmorgens gleich zu seiner neuen Arbeitsstätte, nachdem sie das Wochenende noch gemeinsam verbracht hatten. Der Universitätscampus erstreckte sich in südöstlicher Richtung, aber die alten Fakultäten standen direkt in der Stadt. So lag das Hauptgebäude an der Adolph-Roemer-Straße schräg gegenüber vom Oberbergamt und auf der gleichen Seite wie die größte Holzkirche Europas.
Das Mathematikinstitut befand sich direkt hinter der Post am Kronenplatz, wo auch gleich das kleine, aber nette Hotel Krone stand. Nach einigem Hin und Her hatte Emilia Wollner darauf bestanden, dass Klara und sie das eine Hotelzimmer bezogen und Elisabeth und ihr Vater das andere. Da ihr Vater kaum da war, hatte sie das Zimmer bis auf die Nacht für sich alleine. Das ging in Ordnung. In der nächsten Woche sollte der Möbelwagen kommen und Emilia Wollner fuhr für den ganzen Tag mit dem Auto weg, um alles vorzubereiten.
Merkwürdigerweise lehnte sie Elisabeths bereitwilliges Angebot zu helfen energisch ab. Stattdessen drückte sie ihr hundert Euro in die Hand und sagte: »Habt etwas Spaß heute, geht ins Kino und kauft euch ein Eissorbet. Aber vor allem, vertragt euch! Ich fahre kurz zum Haus, um die Maler einzuweisen, und dann muss ich noch etwas für deine Medizin einkaufen. Sie ist fast alle.«
Also ging Elisabeth zusammen mit ihrer Schwester, die an Krücken lief, nach Downtown Clausthal. So viele Geschäfte gab es in direkter Nähe zum Hotel Krone nicht. Nach Zellerfeld konnten sie nicht, das war mit Krücken zu weit. Dafür hätten sie den Berg hinunter und auf der anderen Seite die Goslarsche Straße wieder hochlaufen müssen. Aber das störte sie nicht, denn dort war noch weniger los als in Clausthal. Sie setzten sich also auf Drängen Klaras in die Grosse'sche Buchhandlung und lasen. Klara wurde sofort ein bequemer Sessel angeboten, doch Elisabeth musste sich auf den Boden davor setzen. Es gab schrecklich viele Bücher über technische Studienfächer und ein großer Anteil davon beschäftigte sich mit Mathematik. Es dauerte dann auch keine zehn Minuten, bis Elisabeth aufsprang und vorschlug, dass sie sich etwas umsehen und Klara später wieder abholen könne. Der war das nur recht. Also machte sich Elisabeth auf den Weg. Sie lief die Adolf-Roemer-Straße runter und wieder rauf. Kein Vergleich mit Hannover, aber irgendwie gab es alles Nötige. Das Kino schien nur einen Saal zu haben und war etwas zurückgesetzt durch einen Gang erreichbar. Den ausgestellten Fotos nach zu urteilen, wurde es von Studenten betrieben. Es lag sogar eine Liste für Wunschfilme aus. Hier konnten sich Interessenten mit einem Vorschlag eintragen und wer genug Stimmen bekam, dessen Film wurde gezeigt. Neben den aktuell angesagten Filmen standen ganz merkwürdige Titel da, die Elisabeth noch nie gehört hatte. Aber es schien zu funktionieren. Eine echt coole Idee, dachte sie. Dann erblickte sie einen Vorschlag: Ronja Räubertochter.
Sie schmunzelte, griff nach dem Kugelschreiber, der an einem Band befestigt war, und machte hinter dem Titel einen weiteren Strich. An einer Eisdiele hielt sie schließlich an und genehmigte sich ein Wassereis. Sie setzte sich an einen der kleinen Metalltische und leckte genüsslich. Für eine so kleine Stadt war doch recht viel los. Viele Studenten liefen zumeist in Gruppen vorbei, doch ihr fiel vor allem ein etwas untersetztes Mädchen in ihrem Alter mit schwarzen, kurz geschnittenen Haaren auf, das aus einer Seitenstraße trat. Es war komplett in Schwarz gekleidet. Elisabeth, der auch recht warm war, wunderte sich über den Aufzug. Das andere Mädchen musste sicher gewaltig schwitzen. Elisabeth selbst trug nur ein leichtes T-Shirt und Shorts. Das Mädchen blickte sich zunächst sehr aufmerksam um, übersah aber, dass Elisabeth sie beobachtete. Urplötzlich verschwand es wieder. Als Elisabeth sich umblickte, bemerkte sie drei kräftige Jungen auf der anderen Straßenseite, die in Richtung Kronenplatz gingen. Sie schienen sehr ausgelassen und amüsierten sich anscheinend damit, Touristen zu ärgern. Kaum dass sie gut zwanzig Meter vorbei waren, rannte die Schwarzhaarige über die Straße und verschwand zwischen dem Hauptgebäude und einem Markt in der Graupenstraße. Dabei fiel ihr etwas aus der Tasche. Elisabeth sprang auf, lief darauf zu und hob es vom Boden hoch. Es handelte sich um ein Musterkatalog für Tattoos. Elisabeth wunderte sich nicht, da die andere doch schon sehr nach Gothic aussah. Sie folgte dem Mädchen, um ihm die Zeitschrift zurückzugeben. Doch als sie um die Ecke bog, war es nirgends zu sehen. Es musste entweder durch irgendeine Tür verschwunden oder weitergerannt sein. All das kam ihr immer merkwürdiger vor. Sie lief die Straße entlang und kam auf die Burgstätter Straße, die den Berg hinunterführte. In einiger Entfernung konnte sie einen schwarzen Haarschopf ausmachen, der gleich darauf nach rechts verschwand. Elisabeth sprintete los. Rennen tat ihr gut und sie lief schnell auf die Stelle zu, wo sie eben noch das schwarzhaarige Mädchen ausgemacht hatte. Warum flüchtete es nur? Hinter dem Haus führte ein schmaler, unbefestigter Weg zu einer Pforte, dahinter lag offensichtlich der Friedhof. Betreten blieb Elisabeth stehen. Auf den Friedhof wollte sie ihr nicht folgen, das wäre irgendwie nicht richtig. Sie blickte nochmal auf das Magazin, aber es klebte keine Adresse darauf. Elisabeth zuckte mit den Schultern und steckte es in ihre Hosentasche. Dann orientierte sie sich kurz. Sie hatte sich den Stadtplan leicht eingeprägt, denn die Bergstadt war mit ihren sechzehntausend Einwohnern viel kleiner als Hannover. Weiter unten musste die Erzstraße sein, die wieder zum Kronenplatz führte. Kurzerhand lief Elisabeth weiter und kehrte dann zurück zu Klara, die immer noch an derselben Stelle saß wie eine Stunde zuvor, als Elisabeth sie hier zurückgelassen hatte.
Wieder einmal schwitzte Sabrina wie verrückt und bekam fast keine Luft mehr. Sie lehnte kurz vor dem Friedhofstor hinter einem Schuppen an der Wand und kämpfte darum, wieder zu Atem zu kommen. Sie war einfach nicht fürs Laufen geschaffen. Zunächst wäre sie um ein Haar auf die drei Deppen getroffen, doch am meisten hatte sie das hochgewachsene fremde Mädchen irritiert. Es hatte sie beobachtet. Das hatte sie aus den Augenwinkeln gesehen und so getan, als wenn sie es nicht bemerkt hätte. Zunächst hatte sie die Fremde für eine Touristin gehalten, aber dann war sie aufgesprungen, um ihr zu folgen, als Sabrina um die Ecke der Graupenstraße gebogen war und noch einmal zurückgeblickt hatte. Sabrina war daraufhin in Panik losgerannt, so schnell sie konnte. Warum, das wusste sie nicht, aber vielleicht war die Fremde eine Bekannte von Vinzenz und als Späherin eingesetzt worden.
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