Die logische Natur ist hier nach Nietzsche selbst zum Instinkt geworden. Das Problem dabei ist vor allem, dass diese logische Natur sich selbst nicht mehr als solche erkennen und auffassen kann – das Problem ist also vor allem die instinktive Gewalt dieser logischen Natur; Nietzsche spricht von einer „Naturgewalt“, die der sokratisch-platonischen Reflexion gerade entgeht: „Wer nur einen Hauch von jener göttlichen Naivität und Sicherheit der sokratischen Lebensrichtung aus den platonischen Schriften gespürt hat, der fühlt auch, wie das ungeheure Triebrad des logischen Sokratismus gleichsam hinter Sokrates in Bewegung ist, und wie dies durch Sokrates wie durch einen Schatten hindurch angeschaut werden muss.“ (GT III-1, 87)
Wir hatten gesehen, dass Nietzsche in der ‚klassischen‘ Tragödie und deren musikalischem Ursprung eine Harmonie von dionysischem und apollinischem Prinzip walten sah, welche es ermöglichte, das Dionysische im apollinisch-individuierenden Gestalten und Erscheinen selbst noch erscheinen zu lassen, obwohl es in diesem Geschehen doch eigentlich als solches untergehen muss, um das Apollinische entstehen zu lassen. In der nicht in erster Linie auf Handlung und Dialog beruhenden klassischen Tragödie gelang es jedoch, so Nietzsche, dieses Geschehen des Bildens und Gestaltens, d. h. der individuierenden Artikulation, selbst noch im Kunstwerk zur Erscheinung zu bringen. Eben dies misslingt nun in der neueren Tragödie durch deren Orientierung an Dialog und Handlung, die beide nun durch den ‚Instinkt‘ der logischen Natur verabsolutiert werden. Sie werden nicht mehr durch die ‚Vision‘ der Musik zu einem Teil des Geschehens, in dem sich das Bilden, Gestalten, Ordnen und Individuieren selbst darstellt. Deshalb wird das Gebildete, Gestaltete, Geordnete und Individuierte nun zum Wesen der Tragödie, die den Prozess des Entstehens nicht mehr zum Ausdruck bringen kann.
Weil die logische Natur zu einem ‚Instinkt‘ geworden ist, kann sie nicht widerlegt werden – d. h. sie wendet sich als solcher nicht auf sich zurück (GT III-1, 87). Nietzsche
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spricht deshalb auch von dem „großen Zyklopenauge des Sokrates“, das sich auf die Tragödie gewandt habe (Zyklopen haben bekanntlich nur ein Auge) (GT III-1, 88). Wir können diese Auffassung aber bereits jetzt in einem etwas allgemeineren Zusammenhang sehen. Natürlich geht es nicht nur um die Tragödie. Jene fehlende Selbstreflexion der sokratisch-platonischen Haltung einer Betonung des Logischen gilt nach Nietzsche auch für die Form des Wissens, die mit der platonischen Philosophie begann und in der Gestalt der Wissenschaft heute noch in weitem Ausmaß das bestimmt, was Wissen heißen soll. Aus der Erörterung von Nietzsches Auffassung über die besondere Struktur der dionysisch-apollinischen ‚klassischen‘ Tragödie ist jedoch auch bereits deutlich geworden, dass seine Kritik nicht auf eine Wiederherstellung des Dionysischen in der Kunst oder in der Welt abzielen kann.
Das Dionysische ‚gibt‘ es nicht in dem Sinn, wie es Siamkatzen oder Stahlwerke in der Welt gibt, und auch nicht so, wie es Klaviersonaten, Wissenschaftsparadigmata oder ewige Liebe gibt. Eigentlich ‚gibt‘ es das Dionysische überhaupt nicht – ebenso wenig wie es das Apollinische ‚gibt‘. Aber das apollinisch-dionysische Bilden, Gestalten und Individuieren kann im Gestalteten, Gebildeten und Individuierten selbst zum Ausdruck kommen – oder auch ihn ihm verschwinden, wenn nur noch Gestalten, Bilder und Individuen erscheinen, in denen der Prozess ihres Entstehens verschwunden ist. Nietzsche kann also nach den Grundsätzen seiner eigenen Philosophie nicht nach einer Wiederherstellung des Dionysischen streben, sondern nur nach einer Restitution eines Zustandes, in welchem jener Prozess des Artikulierens so erhalten ist, dass er nicht hinter der logischen Natur und damit hinter dem Artikulierten verschwindet.
Auch wenn das logische Denken sich nicht als logisches Denken und damit in seiner Besonderheit als individuierte Gestalt auffassen kann, so gibt es doch schon am Anfang dieses Denkens einen Ansatz, an dem sich die ‚Musik‘ im Hintergrund des individuierten Gestaltens zur Geltung bringt. Mit dieser ‚Musik‘ meldet sich das Dionysische und d. h. der Prozess des Gestaltens und Bildens selbst. Nietzsche sah dieses Geschehen in der dialogischen Form der Darstellung der platonischen Philosophie repräsentiert, welche nach dieser Auffassung nicht zufällig in solcher Form überliefert wurde. Man könnte also pointiert sagen, dass die Dialogform die ‚Musik‘ in Platons Philosophie sei und gerade deshalb nicht eine äußerliche Form, sondern die Gestalt, in der sich in dieser Philosophie die Dualität von Gestaltung und Gestalt, von Bildung und Bild, von Individuierung und individuellem Begriff bzw. Gedanken zur Geltung bringt und darstellt. Platon hat aus „voller künstlerischer Notwendigkeit eine Kunstform schaffen müssen, die gerade mit den vorhandenen und von ihm abgewiesenen Kunstformen innerlich verwandt ist.“ (GT III-1, 89) Der platonische Dialog erscheint danach als Kunstform, die sich dem Inhalt nicht neutral anpasst, sondern selbst in einem Verhältnis zum Inhalt steht.
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Man könnte hier an Platons ‚dialektischen‘ Philosophen denken, der die realistische Gestalt darstellt, in der das Denken und der Zugang zu den ‚Ideen‘ geschieht, während die demgegenüber ‚bessere‘ Schau der Ideen zumindest auf Erden nur in der nicht artikulierbaren Form der Liebe oder der Erfahrung des Schönen erreicht werden kann. Der dialektische Philosoph sucht im Dialog nach einer begrifflichen Einteilung des Seienden, d. h. er artikuliert es – und ‚articulus‘ hieß ‚Gelenk‘ und davon abgeleitet in der Rede ein ‚Glied‘ als Teil, Abschnitt, und davon stammt ‚articulatim‘ als ‚gliederweise‘ und deshalb ‚deutlich verständlich‘. Darin bewahrt er aber ein Moment von ‚Poesie‘ auf, weil er diese Einteilung in einem Prozess gewinnt, der zwischen Menschen und ihren nicht von vornherein rein rationalen Vorstellungen über die richtige Begrifflichkeit für die Dinge der Welt geschieht.
Die logische Natur der sokratisch-platonischen Philosophie nimmt sich durch die Dialogform demnach zumindest in einem gewissen Ausmaß zurück. Nach Nietzsche erscheint in diesem Sichzurücknehmen wiederum das ‚Poetische‘, das selbst auf das Dionysische zurückverweist, d. h. auf den Prozess des individuierenden Gestaltens statt auf das Ergebnis der festgewordenen Gestalten und Begriffe. Vom platonischen Dialog gilt nach Nietzsche also, dass er „durch Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwischen Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in der Mitte schwebt und damit auch das strenge ältere Gesetz der einheitlichen sprachlichen Form durchbrochen hat.“ (GT III-1, (GT III-1, 89)
1.7 Platon und der Optimismus der Logik
Damit wird Nietzsches Einschätzung der Veränderung des Denkens durch die sokratisch-platonische Philosophie aber nicht grundsätzlich beeinflusst. Sokrates bleibt doch auch in der Dialogform der „dämonische Sokrates“ (GT III-1, 90), mit dessen logisch-begrifflichem Denken der philosophische Gedanke die Kunst überwächst. In der Tragödie zeigt sich dies etwa darin, dass der Held nun seine Handlungen „durch Grund und Gegengrund“ – also mithilfe der Logik und des auf ihr beruhenden Argumentierens – zu verteidigen beginnt, wodurch ein „optimistisches“ Element in diese Kunstform eindringt, von welcher sie schließlich zerstört werden musste (GT III-1, 90). Nietzsche unterscheidet in diesem Zusammenhang eine ‚pessimistische‘ von einer ‚optimistischen‘ Weltbetrachtung, deren erstere der klassischen Tragödie und ihrer Darstellung des Dionysischen zugehört, während die letztere einen wesentlichen Zug der mit Sokrates/Platon beginnenden Philosophie und Wissensform darstellt. Wir sollten diese Begriffe jedoch nicht mit der heute üblichen psychologischen Bedeutung aufladen,
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