Es ist deswegen unangemessen, dem antiken Judentum ein Defizit nachweisen zu wollen, für das Jesus, Paulus oder das frühe Christentum insgesamt die Lösung angeboten hätten. Eine solche Sichtweise klingt an, wenn Theißen das Judentum als „rituelle Religion“ bezeichnet, die Jesus „revitalisiert“, ja „neu belebt“ habe, als ob das Judentum zur Zeit Jesu nicht genau das war: vital und lebendig. 49
Die Dynamik der Entwicklung wird vielmehr von Räisänen richtig beschrieben: Zur Zeit Jesu teilten viele im Judentum die Erwartung einer „großen Wende“. 50Die Diskrepanz zwischen den Aussagen über Israel, den Tempel und das Volk der Gerechten Gottes etwa in Ps 146–150 und der politischen und sozialen Realität der Juden in Judäa und Samaria verbunden mit der Erwartung einer Rückkehr der weltweiten Diaspora führte immer wieder zu religiös-ethnisch motivierten politischen Konflikten. Diese Konflikte können als Ausdruck der Vitalität und Lebendigkeit des antiken Judentums verstanden werden und bilden den Rahmen für religiös-politische Kontroversen, die auch im Neuen Testament thematisiert sind (Mk 6,14–16; Lk 13,1 f.; 23,5.25; Joh 19,12; Apg 5,36 f.; 21,38).
Die Lebendigkeit und Vielfalt des antiken Judentums wirken sich auch auf die Ausbildung der Christologie aus. Dunn hebt hervor, dass die frühe Christologie „mit der Reflexion der Gottesvorstellungen des Judentums des Zweiten Tempels übereinstimmt und zu ihr gehört“. 51Es ist sinnvoll, diesen Gedanken nicht auf die Anfänge zu beschränken, sondern auf die weitere christologische Entwicklung auszuweiten. Die Christologie ist Ausdruck der energischen Auseinandersetzung um die Frage, in welcher Beziehung Gott zu Israel und zur Menschheit steht. 52
Dabei ist zu beachten, dass im antiken Judentum die Dezentrierung der monotheistischen Gottesvorstellung bereits weit fortgeschritten ist. Dezentrierung bezeichnet den Vorgang der Ausweitung der Gottesvorstellung von der einen Figur des handelnden und richtenden Gottes auf eine Vielfalt von räumlich und figürlich vorgestellten Handlungsräumen und -trägern des göttlichen Willens. 53Je transzendenter Gott selbst vorgestellt wird, desto zahlreicher werden die Vermittlungsinstanzen, die seinen Willen und seine Macht erfahrbar machen. Die räumlichen Vorstellungen über den Thronsaal Gottes und das himmlische Heiligtum waren zur Zeit Jesu bereits weit entwickelt. Dort begegnen himmlische Heerscharen, Engel, Erzengel und der Engel des Herrn. Die Sabbatopferlieder (4Q 400–407; 11Q17) stellen einen himmlischen Gottesdienst vor, der kosmische Dimensionen erreicht. In der aus diesen Texten zu erschließenden Liturgie verschmelzen die himmlische und die irdische Welt im Gottesdienst. Diese Hymnen berichten vom Zusammenströmen von Priestern und Engeln, gottähnlichen Wesen (hebr. elohim und elim) und weiteren Figuren unter der „Anweisung des Königs“. 54
Die Dezentrierung der Gottesvorstellung war im antiken Judentum in vollem Gang. Sie entwickelte sich während der Entstehung der neutestamentlichen Schriften weiter, ohne allerdings die Entscheidung des frühen Christentum zu übernehmen, dass der galiläische Jude Jesus von Nazareth nach seinem schmählichen Kreuzestod in diesen Thronraum Gottes erhöht worden sei und dort eine hervorragende Machtstellung „zur Rechten Gottes“ einnehme (Rezeption von Ps 110,1 in Röm 8,34; 1Kor 15,25; Eph 1,20; Kol 3,1).
Diese Entscheidung, Jesus von Nazareth als wesentlichen Bestandteil des Thronraums Gottes, der als Macht- und Willenszentrum Gottes galt, zu verstehen, führt zu weiteren theologischen Reflexionen über Grundüberzeugungen des Judentums des Zweiten Tempels. Wright verweist etwa darauf, dass die Vorstellung der Rechtfertigung als Reflexion des Paulus über den Ort der Tora im bundestheologischen Denken zu interpretieren sei, „das Paulus kannte und als Basis seines fortdauernden Dialogs mit dem Judentum voraussetzte“. 55
Wenn es ein „Problem“ gab, auf das das antike Judentum keine angemessene Antwort gefunden hat – eine solche Fragestellung verbindet historische und normative Gesichtspunkte – dann wird man am ehesten davon sprechen können, dass das Judentum für Nichtjuden keine angemessene Stellung gefunden habe. 56Die Bedeutung der Nichtjuden für den Gott Israels und für das Judentum blieb eine offene Frage, deren Beantwortung zwar im Judentum selbst nicht als dringlich empfunden wurde, die aber dennoch auf eine überzeugende Antwort wartete.
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