Das geschichtstheologische Grundprinzip der uranfänglichen Geschichte Israels ist damit deutlich herausgestellt: Es ist eine Geschichte des Volkes im Gegenüber zu seinem Gott. Die Hervorhebung des Dekalogs durch Freedman hingegen überzeugt nicht, da der Dekalog zwar als wichtige Orientierung gelten kann, aber eben doch nur eine recht reduzierte Zusammenstellung von Überzeugungen und Verhaltensweisen ist. Der Dekalog erwähnt z. B. weder Kult noch Opfer, weder Beschneidung noch Speisegebote. Freedman stellt etwas einseitig den Monotheismus und die ethische Orientierung in den Mittelpunkt.
Eine andere Interpretation des Geschichtsverständnisses Israels hat Neusner auf der Basis der rabbinischen Texte vorgeschlagen. Er bezeichnet die Erstgeschichte Israels in Anknüpfung an und in Differenz zu Freedman als „standard history“, die das rabbinische Judentum als „paradigmatisch“ verstehe. Was meint Neusner damit? Für die Rabbinen gelte: „Israel lebt in Beziehung zu einem dauerhaften Paradigma, das weder Vergangenheit noch Gegenwart oder Zukunft kennt.“ 21Israel definiere sich über bestimmte Handlungen, die in Übereinstimmung mit einem zeitlosen Paradigma beurteilt würden. Nicht die geschichtlichen Ereignisse als solche seien relevant, sondern deren Beziehung zu dem einen Kriterium, das zählt, nämlich die Tora.
Es stehen sich demnach zwei idealtypische Zugangsweisen zur Geschichte Israels gegenüber. Die eine versteht die Geschichtserzählungen als eine Abfolge dramatischer und teilweise tragischer Ereignisse in der Spannung zwischen Gehorsamsforderung und Übertretung, zwischen Fürsorge und Strafe. In der geschichtlichen Beziehung zwischen Gott und seinem Volk Israel wiederholt sich ein Drama, das nach Erlösung drängt. Dieses Verständnis einer dramatisch-tragischen Geschichte bringt folgerichtig Figuren hervor, die diese Tragik beenden, etwa die Idealgestalt eines Königs wie David, die dann als Messias die Erwartungen nach ewigem Heil für Israel befriedigt. Dieses Narrativ scheint in der biblischen Geschichtserzählung angelegt zu sein und bildet die Basis für eine Interpretation, die für die christliche Theologie wichtig geworden ist: Die tragische Beziehung des biblischen Gottes zu seinem Volk bedarf der Erlösung.
Demgegenüber hebt Neusner darauf ab, dass es in der rabbinischen Tradition nicht diese innere tragische Gestalt sei, die die Kontinuität der biblischen Geschichtserzählung ausmache. Es gebe vielmehr ein Kriterium außerhalb der geschichtlichen Erzählung, die jedes Ereignis der zeitlosen Frage unterwerfe, in welcher Beziehung es zu den Geboten der Tora stehe. Israel als das Volk der Tora und die Tora als die zeitlose ewige Weisung Gottes werden so zu einer Mitte, die durch die historischen Ereignisse nicht wirklich berührt würden.
Mit den Konzepten der primary history und der paradigmatic history stehen sich demnach eine geschichtstheologische und eine toraorientierte Interpretation der biblischen Geschichtserzählung gegenüber. Die eine betont die Bedeutung des Gottesgedankens in seinem geschichtlichen Verhältnis zum Gottesvolk, die andere stellt die ewige Weisung der Tora und die Verpflichtung des Volkes Israel auf die Tora in den Mittelpunkt. Die geschichtstheologisch-dramatische Sichtweise der Geschichte Israels wirkt besonders in der jüdischen Apokalyptik fort, während die ungeschichtlich-toraorientierte, durch Sadduzäer und Pharisäer vorbereitet, dann schließlich im rabbinischen Judentum dominiert.
Die Darstellung der Geschichte des jüdischen Volkes und deren Deutung spielen eine wesentliche Rolle für das Selbstverständnis des antiken Judentums. Auf der Basis einer grundlegenden biblischen Geschichtserzählung (primary history) wird diese Geschichte entweder als eine dramatische und krisenhafte Beziehung zwischen dem Gott Israels und seinem Volk gedeutet oder aber als eine an den Forderungen der Tora zu messende Sammlung von Beispielen für die Erfüllung und Verfehlung der Tora (paradigmatic history). Bei beiden Geschichtskonzeptionen steht aber das eine Grundprinzip im Hintergrund, dass Gott die Geschichte seines Volkes bestimmt.
2.6Tora
Die biblische Grunderzählung von Genesis bis zum zweiten Buch der Könige denkt geschichtlich. Gehorsam oder Übertretung entscheiden über das Ergehen des Volkes Israel im Raum der Völkergeschichte. Die Völker können nur Macht über Israel gewinnen, wenn der Gott Israels es zulässt oder die Völker gar als Instrumente seines Strafhandelns nutzt. In den biblischen Geschichtserzählungen begegnen allerdings noch weitere Kriterien, die die Grenze zwischen Gehorsam und Ungehorsam markieren, etwa die Fremdgötterverehrung, die Höhen, auf denen verehrt, die Kultstatuen und Masseben, die aufgerichtet werden, oder auch das Vergießen unschuldigen Blutes. Es war durchaus umstritten, woran sich Gott orientiert, wenn er die Geschicke seines Volkes bestimmt.
Diese Fragen werden im antiken Judentum mit Hilfe der Vorstellung von den väterlichen Überlieferungen, dem Gesetz bzw. der Tora beantwortet. Nach Josephus führt die Beachtung der „väterlichen Gesetze“ (gr. patrioi nomoi; πάτριοι νόμοι) zu einem „glückseligen Leben“ (gr. eudaimonia; εὐδαιμονία). Philo ist der Überzeugung, dass die Tora den Aufstieg der Seele zur Weisheit (gr. sophia; σοφία) ermögliche, da die Tora mit dem Naturgesetz (gr. nomos physeos; νόμος φύσεως), das allem Seienden als Prinzip innewohnt, identisch sei. Das eher religionsgesetzliche Verständnis der Rabbinen hingegen unterstreicht die Verpflichtung zur Tora um ihrer selbst willen. Sie sei eine himmlische Gabe und ihre Befolgung sei für Israel Schöpfungsauftrag.
In der Hebräischen Bibel finden sich als Bezeichnungen für Recht, Rechtssatz, Weisung zahlreiche Wörter, etwa dat, mischpat, chok, mizwa und auch tora. Das hebr. Wort tora (תורה) meint zunächst die Einzelweisung. Als zusammenfassende Bezeichnung für die Gesamtheit der Gebote Gottes ist es erst in späterer Zeit belegt. Die Septuaginta übersetzt tora überwiegend und die verschiedenen anderen oben genannten hebräischen Begriffe zum Teil ebenfalls vereinheitlichend mit „Gesetz“ (gr. nomos; νόμος) im Singular. Das Wortfeld nomos dominiert in der griechischen Übersetzung noch in weiterer Hinsicht. So werden auch zum Teil sehr spezifische Rechtsbrüche und Übertretungen verallgemeinernd mit gr. anomia (ἀνομία) oder gr. paranomia (παρανομία) bezeichnet. Die Septuaginta nutzt im Falle der genannten Rechtsbegriffe, die feine terminologische Unterscheidungen erlauben, überwiegend das Wortfeld gr. nomos, wie sie auch in anderen Fällen dazu neigt, für die Übersetzung spezifischer hebräischer Begriffe „semantisch allgemeinere Äquivalente“ im Griechischen zu verwenden. 22Durch die vereinheitlichenden Übersetzungen der disparaten hebräischen Rechtsbegriffe wird auch eine Bedeutungsverschiebung des Begriffs „Gesetz“ bewirkt. Er steht nun für die Summe der religiös-ethnischen Regelungen des Judentums. Damit öffnet sich die Bezeichnung für die hellenistische Vorstellung, nach der ein Volk durch gemeinsame Sitten und durch ein gemeinsames Gesetz gebildet werde. Diese vereinheitlichende Tendenz findet sich dann auch im masoretischen Text der Hebräischen Bibel. In ihr kommt hebr. tora genau 220 Mal vor. Der Sachverhalt weist auf eine vereinheitlichende Redaktion des masoretischen Textes hin, die in der Zahlensymbolik (22 Buchstaben des Alphabets × 10) die zentrale Bedeutung der tora, ihre „Perfektion und Totalität“ zum Ausdruck bringen möchte. 23Verteilt über den gesamten Kanon wird tora zum zentralen Inhalt der Schrift, deren Bedeutung über die dort berichteten Einzelereignisse hinausgeht und dadurch zeitlos wirkt.
Die Festlegung der Tora vollzieht sich aber nicht nur symbolisch, sondern auch sehr konkret. Im Babylonischen Talmud findet sich die traditionell gewordene Gesamtzahl von 613 Geboten und Verboten. Da ältere Traditionen nicht nachweisbar sind, ist diese Zusammenstellung wohl spätestens auf die Mitte des 6. Jh. zu datieren (Endredaktion: bBB 157b; bBM 86a). Im Traktat Makkot (Geißelung) aus der Ordnung Nezikin (Schädigungen) des Babylonischen Talmuds heißt es:
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