Die Gestaltung einer inklusiven Schule, die perspektivisch formuliert wird, stellt zugleich die Chance und Herausforderung für angehende Lehrer / -innen dar, diesen Prozess aktiv mitzugestalten. Die Möglichkeit besteht, eine schulische Lernkultur zu gestalten, die zwar im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion angesiedelt ist, jedoch die Mitgliedschaft und Verteilung von Privilegien nicht in vergleichbarer Weise reproduziert, wie es aktuell zu beobachten ist. Ziel dieses Buches ist es, einzuladen, an dieser Gestaltungsaufgabe zu partizipieren.
Mit diesem Vorhaben möchte dieses Buch dazu anregen, Heterogenität als Chance für Schul- und Unterrichtsentwicklung zu begreifen, ihren Anteil an der systematischen Benachteiligung sozialer Gruppen zu erkennen und Alternativen zu entwickeln. Dies erfordert, dass die Leser / -innen sich zuweilen darauf einlassen, ihre bisherigen Vorstellungen von Schule und Unterricht irritieren zu lassen. Es sollen Perspektiven aufgeworfen und Neugierde geweckt werden, sich weitergehend mit der Thematik auseinanderzusetzen; hierfür werden Literaturhinweise gegeben und Übungsaufgaben bereitgestellt. Letztere sollen zum Diskutieren anregen und so gleichermaßen eine vertiefte Auseinandersetzung herausfordern. Das Buch möchte einen Anlass für eine reflektierte Auseinandersetzung und Bearbeitung von Heterogenität in Schule und Unterricht schaffen.
Basel, im August 2015
2 Differenzen in Schule und Unterricht
„Heterogenität“ ist etwa seit dem Jahr 2000 zu einem zentralen Begriff geworden, wenn es um die Beschreibung schulischer und unterrichtlicher Realität geht (Budde 2012). Dieser Abschnitt möchte in das Verständnis von Heterogenität und Homogenität respektive von Differenz und Gleichheit einführen. Ziel dieser einleitenden Überlegung ist es, eine Analysefolie bereitzustellen für pädagogische, v. a. für unterrichtliche Zusammenhänge, zu denen Bildungs-, Lern-, Erziehungs- und Sozialisationsprozesse zählen. Die aufzuführenden theoretischen Konzepte sollen dabei helfen, den Blick für Heterogenität in Schule und Unterricht zu schärfen.
Im ersten Abschnitt wird eine allgemeine Definition von Heterogenität vorgenommen. Diese Perspektive wird im darauffolgenden Abschnitt um eine sozialkonstruktivistische und wissenschaftssoziologische Perspektive, die wesentlich auf der Konzeption der „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ Arnd-Michael Nohls (2010, 145) aufbaut, differenziert und anhand der Überlegungen zu Milieus als Felder im sozialen Raum erweitert.
2.1 Heterogenität in der Schule – eine Definition
Heterogenität hat sich etwa seit der Jahrtausendwende zu einem zentralen Bezugs- und Erklärungspunkt in (schul-)pädagogischen Zusammenhängen entwickelt (Budde 2012; Schroeder 2007, 33). In diesem Abschnitt soll Heterogenität als Beschreibungsansatz im schulischen und unterrichtlichen Kontext in allgemeiner Hinsicht erklärt werden. Die Definition orientiert sich an einem sozial-konstruktivistischen Verständnis und unterscheidet sich folglich von Perspektiven, die aus anderen theoretischen Positionen heraus Heterogenität definieren. So verweist diese Definition, im Gegensatz zu kognitionspsychologischen Überlegungen darauf, dass Differenzen nicht aufgrund von Dispositionen bestehen, die sich in verschiedenen Merkmalen verdichten, sondern in sozialen Interaktionen hergestellt und bearbeitet werden (Trautmann / Wischer 2011, 42 f).
Sozial-konstruktivistische Überlegungen definieren Heterogenität mehrheitlich, z. T. auch mithilfe anderer Begriffe, anhand der folgenden vier Punkte: relativ, sozial-kulturell eingebunden, sozial konstruiert und partial (Lang et al. 2010, 315 f; Prengel 2006, 30 ff; Wenning 2007). Sie werden nachfolgend für die Definition herangezogen. Die Kriterien werden hier zwar analytisch voneinander getrennt, sind jedoch aufeinander bezogen und erlangen im Zusammenspiel einen definitorischen Charakter.
relativ
„Heterogenität“ kommt aus dem Griechischen, bedeutet übersetzt „Ungleichartigkeit“ und bezeichnet somit Unterschiede oder Differenzen. Diese können dann erkannt und beschrieben werden, wenn mindestens zwei Aspekte oder Eigenschaften miteinander in Beziehung gesetzt, also verglichen werden. Dies erfolgt mithilfe eines Maßstabs, der an die zu vergleichenden Aspekte angelegt wird und so ihre Relation zueinander beschreibbar macht. Das Ergebnis dieses Vergleiches lautet dann gleich oder ungleich respektive homogen oder heterogen.
Eine Differenz beschreibt also die Relation von mindestens zwei zueinander in Beziehung gesetzten Eigenschaften oder von anderen verglichenen Aspekten. Das Resultat des Vergleiches ist eine Relation (Lang et al. 2010, 315).
der Vergleichsmaßstab
Ein Aspekt wie die schulisch erbrachte Leistung kann folglich nicht per se heterogen sein. Erst der Vergleich konkretisiert, auf welchen Aspekt schulischer Leistung genau Bezug genommen wird und worin die Verschiedenartigkeit besteht. In der Schule wird die Relation häufig zwischen den Leistungen eines Schülers zu unterschiedlichen Zeitpunkten bestimmt, gegenüber der Klasse oder Lerngruppe (soziale Bezugsnorm), oder gegenüber einer formalen, objektiven Bezugsnorm (Schuck 2004, 353 f). Letzteres wird in Bildungsstandards und / oder Klassenzielen festgeschrieben. Je nachdem, wie verglichen wird, kann die Relation anders ausfallen.
Der Grundschüler Paul verfügt zu Beginn des dritten Schuljahres über keinerlei Englischkenntnisse. In der dritten Klasse beginnt der Englischunterricht. Zu den Herbstferien, also etwa zwei Monate später, kann Paul einige Obstsorten und die Farben auf Englisch bezeichnen. Ein Vergleich seiner Englischkenntnisse zu den zwei Zeitpunkten zeigt, dass diese different sind.
Seine Lehrerin, Frau Ackermann, vergleicht Pauls englischsprachliche Leistungen im Herbst mit denen seiner Mitschüler / -innen – sie nimmt seine Lerngruppe als Vergleichsgruppe (soziale Bezugsnorm). Dabei erkennt sie, dass einige Schüler / -innen zwar die Obstsorten, nicht aber die Farben im Englischen benennen können; zudem stellt Frau Ackermann fest, dass es Kinder gibt, die auch die englische Bezeichnung einiger Tiere kennen. Hier werden, bezogen auf die einzelnen Schüler / -innen einer Schulklasse, heterogene Lernstände im Vergleich ersichtlich.
Ein Vergleich der Englischkenntnisse Pauls mit denen des Bildungs- und Rahmenplans für den Englischunterricht in der Grundschule kann zeigen, dass er die erwarteten Leistungen erfüllt (objektive Bezugsnorm). Seine Kompetenzen und die schuladministrativ gesetzten Erwartungen sind identisch oder homolog zueinander.
Wechselspiel von Gleichheit und Verschiedenheit
Vergleiche setzen ihrerseits Gleichheit voraus. Heterogenität und Differenzen sind nur zu bestimmen und zu erkennen, wenn Homogenität, also Gleichheit, auf einer übergeordneten Ebene vorhanden ist.
So kann die Feststellung, dass zwei Personen unterschiedliche Sprachen sprechen – Deutsch und Italienisch – nur dann erfolgen, wenn davon ausgegangen wird, dass beide sich linguistischer Symbolsysteme bedienen, um mit anderen Menschen in Interaktion zu treten. Diese Gemeinsamkeit gesprochener Sprachen ist die Basis des Vergleiches, mit dem festgestellt werden kann, dass es sich um unterschiedliche, also differente Sprachen handelt.
Eine Gleichheit, auf die Bezug genommen wird, ist bei der Feststellung von Heterogenität und Homogenität auf übergeordneter Ebene notwendig. Folglich kann nur Gleiches mit Gleichem verglichen werden. Eigenschaften oder Dinge, die auf abstrakterer Ebene gleich sind, können zueinander in Relation gesetzt werden, die dann als gleich / ungleich beschrieben wird. Homogenität und Heterogenität sind folglich dialektisch aufeinander bezogen und miteinander verbunden, da sich das eine nicht ohne das andere beschreiben lässt. Ein solcher vergleichsinterner und zu bestimmender Maßstab wird auch „tertium comparationis“ genannt (Prengel 2009, 141).
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