Es ist derzeit wohl kaum möglich, einen vollständigen Überblick über das Panorama postkolonialer Theologien zu geben. Das liegt nicht nur an der beschriebenen Unmöglichkeit einer Abgrenzung dieser Theologien von verwandten und benachbarten Strömungen und an ihrer inneren Vielfalt, sondern auch daran, dass sich weder alle theologischen Arbeiten, die man als postkolonial einstufen könnte, selbst so (oder auch ‚dekolonial‘) nennen. Schließlich muss man auch kritisch anmerken, dass es inzwischen Arbeiten gibt, deren Selbstidentifizierung als ‚postkolonial‘ nicht mit der verwendeten Methodologie übereinstimmt.
Als eine theologische Perspektive in Bewegung und Transformation kann man daher die postkolonialen Theologien derzeit als Vielgestaltigkeit und Uneinheitlichkeit postkolonialer Theologienvielgestaltig und uneinheitlich bezeichnen. Sie weisen auch keinen geografischen Schwerpunkt auf; vielmehr entwickeln sie sich eher versprengt auf allen Kontinenten, oftmals in Minderheitsverhältnissen, die von ihnen selbst als ‚Diaspora‘ charakterisiert werden. Das Internet und soziale Medien werden gerne und ausgiebig genutzt, so dass globale Vernetzung und Kommunikation möglich werden. Auch ökumenisch und teilweise interreligiös entwickelt sich eine lebendige Zusammenarbeit.
Zwischen theologischen Entwürfen verschiedener christlicher Konfessionen wird dabei meist nicht ausdrücklich unterschieden. Vielmehr werden Entwürfe aus anderen Kirchen oft dankbar (und kommentarlos) aufgegriffen und rezipiert. Die Gemeinsamkeiten in den (post-)kolonialen Fragestellungen sind oft größer als die geschichtlich gewachsenen konfessionellen Unterschiede. Im Gegenteil wird der historische Konfessionalismus sogar als koloniales Erbe dekonstruiert. Die Grenzen zwischen den Konfessionen werden – wie viele Grenzbereiche im Postkolonialismus – als (post-)koloniale Machtinstrumente problematisiert und dadurch auch durchlässig für den Dialog.
Aufgrund der Aufmerksamkeit, die im Postkolonialismus sowohl kulturellen wie auch politischen und wirtschaftlichen Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen zukommt, berühren sich die postkolonialen Theologien auch in vielfältiger Weise sowohl mit interkulturellen als auch mit Befreiungstheologien. Während interkulturelle Theologien in der Vergangenheit häufig die Fragen der Machtverhältnisse ausblendeten und die kulturellen Begegnungen und Lernprozesse in den Vordergrund rückten, fragen postkoloniale Theologien stärker nach den Möglichkeiten des interkulturellen Dialogs bzw. der ↗ Verhandlungen zwischen den Kulturen unter dem Einfluss kolonialer Machtstrukturen. Gegenüber den Befreiungstheologien und verschiedenen anderen politischen Theologien weltweit lenken die postkolonialen Theologien hingegen die Aufmerksamkeit insbesondere auf (inter-)kulturelle Fragen, die in den politischen Theologien oft als zweitrangig oder gar als Hindernis zurückgedrängt wurden und machen darauf aufmerksam, dass die Analyse kultureller Machtverhältnisse notwendig ist, um soziale Hierarchien und Ausbeutungsstrukturen besser zu verstehen.
In beiden theologischen Strömungen – den politischen wie den interkulturellen Theologien – wächst nun das Interesse an einer Auseinandersetzung mit den Fragen und Methodiken des Postkolonialismus. Postkoloniale Theologien nähren sich daher auch aus dem Dialog mit diesen beiden pluralen Strömungen der Theologien des Globalen Südens.
In den verschiedenen Ausformungen postkolonialer Theologien zeigt sich weiterhin auch die Bedeutung, die in ihnen jeweils den konkreten lokalen und historischen Kontexten zugemessen wird. Sie versuchen nicht, allgemeingültige Antworten auf vermeintliche Menschheitsfragen zu geben, sondern gehen von konkreten kulturell und machtpolitisch geprägten Strukturen und Problemen aus. Dadurch gewinnen sie nicht nur eine Konkrete kontextuelle Charakteristikkonkrete kontextuelle Charakteristik, sondern auch global gesehen eine äußerst differenzierte Pluralität: Sie lassen sich nicht nur nicht über einen Kamm scheren, sondern sie wirken in der Gesamtschau gelegentlich widersprüchlich, uneinheitlich und fragmentiert. Diese Uneinheitlichkeit ist eine praktische Folge ihrer grundsätzlich kritischen Perspektive gegenüber der Universalisierung, Vereinheitlichung und Verdinglichung in der Theologie, die sie vor allem hinsichtlich der eurozentrischen und kolonialen Theologie bemängeln. Man muss diese Widersprüchlichkeit und Fragmentarität postkolonialer Theologien daher durchaus als gewünscht ansehen.
Denn auf diese Weise wird es den postkolonialen Theologien möglich, die vielgestaltigen Verbindungen etwa von Kolonialismus und Missionierung in der Geschichte konkret zu bearbeiten. Denn Spuren und Überreste kolonialer Mentalität weisen sehr unterschiedliche Gestalten auf, je nach historischen Kontexten und geschichtlichen Entwicklungen. Sie finden sich in Theologie und Kirche sowohl in den (ehemaligen) Missionsgebieten als auch in Europa und Nordamerika, bis in die Gegenwart. Die komplexen Beziehungen zwischen den von kolonialen und postkolonialen Machtstrukturen geprägten Kulturen und den Theologien, die in ihnen entstanden sind und entstehen, lassen sich mit dieser postkolonialen Methodik entschlüsseln und verändern.
Gerade in der katholischen Kirche, die sich dezidiert als Weltkirche versteht und zentralistisch organisiert, sind globale Machtverhältnisse und Kulturen, die von ihnen charakterisiert sind, eine wesentliche Herausforderung für die Theologie, und zwar nicht nur für die Missions- und Religionstheologien, sondern auch für Ekklesiologie, Christologie und andere theologische Themen, die ja ebenfalls kontextueller Prägung unterworfen sind.
Die folgenden Kapitel stellen einige Überlegungen in diesen Zusammenhängen vor und zeigen, welche tief reichenden Konsequenzen die Rezeption postkolonialen Denkens in der Theologie hat. Beispiele aus aller Welt und aus verschiedenen Bereichen der Theologie werden zeigen, dass die Theologie grundsätzlich angefragt ist und sich prinzipiell zu dieser Herausforderung stellen muss.
Der philippinische Theologe Daniel Franklin PilarioPilario, Daniel Franklin benennt „drei Hauptziele“ postkolonialer Theologien:
„(1) Erstens die dekonstruktive Phase. Die postkoloniale Theologie unternimmt es, biblische Dokumente, theologische Paradigmen und doktrinäre Behauptungen zu untersuchen, um ihre Komplizenschaft mit dem kolonialen Unternehmen festzustellen. […]
(2) Zweitens das Projekt der Rekonstruktion. Postkoloniale Theologien führen rekonstruktive Lektüren der sogenannten klassischen Texte aus der Perspektive subalterner Stimmen durch oder stellen neue Texte und Praktiken in den Vordergrund, die bislang von dominanten Diskursen unterdrückt wurden. […]
(3) Drittens entscheidet sich die postkoloniale Theologie für eine Hermeneutik des Widerstands, d.h. nicht nur zu lesen, wie die Kolonialmächte die Kolonisierten konstruieren, sondern auch, wie die Subalternen dieselbe Macht untergraben, mit der sie dominiert wurden.“4
Diese Ziele oder Phasen postkolonialer Theologien, die nicht als starre Abfolge oder Struktur gedacht werden dürfen, werden auch in den Beispielen, die auf den folgenden Seiten vorgestellt werden, immer wieder zum Vorschein kommen. In diesem Überblick wird aber schon deutlich, dass die postkoloniale Kritik nicht nur einzelne Elemente der theologischen Arbeit verändert, sondern die traditionelle Theologie prinzipiell in Frage stellt. Die österreichisch-belgische Theologin Judith GruberGruber, Judith verweist auf diese Grundsätzlichkeit der Neuorientierung:
„Eine deutschsprachige postkoloniale Theologie ist damit keine neue, marginalisierbare Disziplin, sondern orientiert die epistemologischen Vollzüge des theologischen Diskurses neu:“ Postkoloniale TheologInnen in Europa wählen „eine alternative Methode zu den Strategien des etablierten Diskurses; wir gehen buchstäblich einen anderen ‚Weg‘ des Theologietreibens, der uns dazu herausfordert, auch die ‚Landkarte‘ der Theologie neu zu vermessen.“5
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