(3) Provisorische Korpuserstellung, Formulierung heuristischer Fragen
Zusammenstellung von Materialien (Medientexte, Transkriptionen von Interviews, aber auch andere bedeutungstragende Materialien wie Plakate, Bilder usw.), von denen theoretisch gestützt behauptet werden kann, dass sich eine einheitliche Wissensordnung vorfinden lässt und sich deshalb ein kohärentes Regelsystem rekonstruieren lässt. Entwicklung eines Systems von heuristischen Fragestellungen, die auf die Elemente der diskursiven Formation hinführen und den »analytischen Blick« sensibilisieren helfen. Beispiele für solche heuristischen Fragestellungen finden sich in Jäger (2012), Kendall/Wickham (1999), Diaz-Bone (2010) oder Keller (2011).
(4) Oberflächenanalyse
Suche nach den im Sprachfluss auftretenden »Objekten«, »Begriffen« und thematischen Wahlen/Strategien. Welche wiederkehrenden Thematisierungen, Problematisierungen finden sich? Wie treten Sprecher auf, was sind die Modalitäten der Argumentation? Dabei geben die heuristischen Fragstellungen ein theoretisches Raster vor für das Auffinden relevanter Textstellen. 2
(5) Interpretative Analytik
1. Schritt: Beginn der Rekonstruktion der diskursiven Beziehungen
Ausarbeitung des Codesystems. Schluss auf erste Regeln der Aussagen. Was findet sich »regelmäßig« als Problematisierung als Kategorie, als Bewertung? Welche Verknüpfungen finden sich, welche Oppositionen werden ins Spiel gebracht? Identifizierung von Kohärenzen und Widersprüchlichkeiten. Rückbezug zu den Textstellen und Versuch einer rekursiven Prüfung an den codierten Aussagen mit evtl. anschließender Verfeinerung bzw. Korrektur. Klärung: Muss weiteres Material erhoben werden, um den Korpus zu vervollständigen? Dies wäre der Fall, wenn die gefundenen Elemente der diskursiven Formation nicht ausreichend belegt sind oder sich abzeichnet, dass der Korpus ein Regelsystem nicht vollständig abbildet.
(6) Interpretative Analytik
2. Schritt: Fertigstellung der Rekonstruktion Weitere Vernetzung der Diskurselemente. Schluss auf die unterliegende Organisation der Oppositionen und Schemata. Welche impliziten Klassifikationsprinzipien lassen sich erschließen? Lassen sich die gefundenen Oppositionen und Klassifikationen hierarchisch organisieren? Gibt es fundamentale Schemata? Anhand welcher fundamentalen Oppositionen sind die Elemente der diskursiven Formation angeordnet? Rekonstruktion der enthaltenen Tiefenstruktur (Episteme, System der Kollektivsymbole). Rücküberprüfung an den Ergebnissen der beiden vorherigen Schritte. Erneute Klärung: Ist die Regelhaftigkeit ausreichend hinsichtlich aller vier Bereiche rekonstruiert oder erscheint der Diskurs noch unvollständig abgebildet? Gegebenenfalls muss nun selektiv der Korpus noch erweitert werden. Verdichtung auf die zentralen Organisationsprinzipien der Diskursordnung.
(7) Ergebnisaufbereitung und Rückbezug
Darstellung der herausgearbeiteten Wissensordnung. Bei vergleichender Vorgehensweise können nun die verschiedenen Wissensordnungen gegenübergestellt werden. Interpretative Verknüpfung der gewonnenen Ergebnisse zur diskursiven Praxis mit nicht-diskursiven Praxisformen. Mit Bezug auf die Resultate der Theorieformierung und der Sondierungsphase kann nun der Rückbezug erfolgen. Was bedeuten die Befunde über die Diskursordnung und die Regeln der diskursiven Praxis für den Ermöglichungszusammenhang von diskursiven und nicht-diskursiven (institutionellen) Praktiken (= Dispositivanalyse)? Wie stehen verschiedene Diskurse in Beziehung zueinander und wie ist das Verhältnis von Spezialdiskursen und Interdiskursen zu denken (= Interdiskursanalyse)? Welche sozialen Kollektive, Identitäten und sozialen Konflikte sind durch Diskurse wie ermöglicht und artikuliert worden (= Lebensstil- und Sozialstrukturanalyse)? usw.
Theorieformierung: Pierre Bourdieu (1982) hat in seiner einflussreichen Untersuchung »Die feinen Unterschiede« aufgezeigt, dass die unterschiedlichen materiellen Lebensbedingungen in einer Gesellschaft sich in verschiedenen Lebensstilen niederschlagen. Anhand der symbolischen Distinktion, d. h. der Art und Weise, wie Lebensstilkollektive sich unbewusst in der Weise ihres Konsums von Kulturgütern und dem Ausüben kultureller Praktiken (inkl. Sportarten und Freizeittätigkeiten) symbolisch gegeneinander abgrenzen, zeigen sich die Trennlinien einer Gesellschaft. Die in einer Gesellschaft vorhandenen Kulturformen (Genres), also die kulturellen Praktiken und kulturellen Güter werden der Distinktionstheorie zufolge zum zentralen »Material« für die Artikulation von sozialen Unterschieden und damit Identitäten. Die Frage, die sich stellt, ist, wie die Zuordnung von Kultur zu den Lebensstilgruppen, wie also das identitätsstiftende Band zwischen den Dingen und Praktiken einerseits und den Menschen andererseits zustande kommt. Bourdieu hat hier wenig Hinweise gegeben (die dann letztlich materielle Erklärungen bleiben). Hinzu kommt, dass heutzutage die Exklusivität (also der Preis) bei nur wenigen Kulturformen ein Zuordnungskriterium ist. Die meisten Kulturformen sind massenmedial vermittelt, viele werden für Massenmärkte hergestellt, einige sind staatlich subventioniert, die Zugangsbarrieren sind daher zumeist gering. Und: Die heftigsten Distinktionen finden in den Milieus der Mitte statt, wo die Erklärung der Zuordnung durch die materiellen Eigenheiten der Kultur schwierig wird.
Erweitert man die Distinktionstheorie um die Diskurstheorie wird folgende These denkbar: Die Konstruktion des Bandes zwischen Kultur und Lebensstilgruppen erfolgt diskursiv und das kulturelle Wissen ist Resultat einer diskursiven Praxis, sodass man eine »diskursive Kulturproduktion« in den Kulturwelten finden wird. Dort werden nicht nur die kulturellen »Objekte« diskursiv hervorgebracht, sondern auch kulturelle Wissenskonzepte (»Begriffe«) und Problematisierungen, die folgende ästhetische Aspekte diskursivieren: Wie die Kultur hergestellt werden soll, wie sie rezipiert werden soll und wie sie Sinn stiftender Teil der Lebensführung werden kann. Die Rekonstruktion der Tiefenstruktur des jeweiligen kulturellen Wissens verspricht deshalb, eine diskursiv verfasste Ästhetik zu Tage zu fördern, die als eine Erklärung für die identitätsstiftende Wertigkeit der kulturellen Genres für die Lebensstilgruppen angesehen werden kann. Insgesamt wird also die Distinktionstheorie Bourdieus diskurstheoretisch erweitert und zudem ergänzt um Ansätze der neueren amerikanischen Kultursoziologie (des Institutionalismus und der Kulturproduktion in Kulturwelten). Diese Theorie wurde anhand einer beispielhaften Untersuchung »angewandt«, d. h., es sollte gezeigt werden, dass (1) eine Diskursanalyse auf eine Tiefenstruktur stoßen würde (dass es sie also tatsächlich gab) und dass (2) eine vergleichende Diskursanalyse verschiedener Kulturwelten verstehbar machen würde und zeigen, warum sie Produktionsorte für die diskursive Kulturproduktion für unterschiedliche Lebensstilgruppen sind.
In der Sondierungsphase wurde deshalb nach vergleichbaren Kulturwelten gesucht. Populäre Musikformen schienen geeignet zu sein, da Musik so nach Genres und Subgenres unterdifferenziert ist, dass erwartet werden konnte, dass sich unterschiedliche Diskursordnungen als Spezialdiskurse im massenmedialen Interdiskurs herausgebildet hatten (Diaz-Bone 2010). Die Musikwelten von Techno und Heavy Metal wurden ausgewählt, da sie zu den einflussreichsten Genres der 1990er Jahre gehörten, beide eine starke Distinktionskraft hatten und belegt werden konnte, dass die Hörerschaften sich sozialstrukturell in verschiedenen Regionen der Mitte verorten ließen. Diana Crane (1992) hat ein Modell der Mediendifferenzierung vorgeschlagen, das sich auf die Differenzierung zwischen Spezialdiskursen von Kulturwelten (z. B. Special-Interest-Zeitschriften) und Interdiskursordnungen des Medien-Mainstreams (z. B. nationale Zeitungen, die populären Formate der Fernsehsender) beziehen lässt. Etwas vereinfachend kann man sagen, dass die Medienperipherie die kulturweltlichen Medien-foren beinhaltet, während das Medienzentrum im Sinne Links die Sphäre der Interdiskurse ist. Als kulturweltliche Medienforen für die populären Musikwelten wurden spezielle Musikzeitschriften als »Zentralorgane« der diskursiven Distinktion ausgemacht, hier wurde mit den Redaktionen eine bedeutende Sprecherposition ausgemacht, anhand von Texten war der Diskurs über »Musik« gezwungen sich niederzuschlagen, waren alle Thematisierungen, Problematisierungen, Strategien der Musikwelten textlich dokumentiert. Es wurden Daten gesammelt, welche Zeitschriften vorhanden waren, was ihre Auflagen waren, und es wurde in Gesprächen mit Vertretern aus beiden Musikwelten und anhand vorgängiger Forschungen geprüft, welchen Status welche Medien in der Technowelt und der Metalwelt innehatten. Da absehbar wurde, dass eine größere Textmenge in zwei Korpora eingehen würde, wurde geprüft, ob ein qualitatives Datenanalyseprogramm die Diskursanalyse hinsichtlich Materialorganisation, Rekursivität und Systematik unterstützen konnte. Problematisch war dabei, dass das elaborierte QDAS auf die Methodologie der Grounded Theory (→ Lampert, S. 596ff.) bezogen ist. Entsprechend musste das Codiermodell kontrolliert und diskursanalytisch umgearbeitet werden. Schließlich wurde ATLAS/ti verwendet.
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