Nach der rabbinischen Vorstellung gab es von Anfang an eine „schriftliche“ und eine „mündliche“ Tora. 2Die fünf Bücher Mose in der Bibel, d. h. die „Tora“, aus der Juden am Schabbat in der Synagoge lesen, bzw. der Pentateuch, ist nach dieser Vorstellung die „schriftliche Tora“ (tora schebichtav). Ihr zur Seite gestellt ist jedoch noch eine zusätzliche, eine „zweite Tora“ – die „mündliche Tora“ (tora scheba’al peh). Letztere ist die Mischna. Das Wort Mischna bildet sich aus dem Verbstamm sch–n–h für „wiederholen“, aber auch „verändern“. 3Das allein lässt schon die große Spannung zwischen der schriftlichen und der mündlichen Tora erahnen. Die mündliche Tora wiederholt die schriftliche Tora und verändert sie zugleich.
Die schriftliche Tora wurde wahrscheinlich in der Zeit um Esra im 5. Jahrhundert v. u. Z. kanonisiert. Sie enthält die Bücher: 1. Genesis/Bereschit; 2. Exodus/Schemot; 3. Levitikus/Wajikra; 4. Numeri/Bemidbar und 5. Deuteronomium/Dewarim. Diese erzählen die Geschichte des Volkes Israel, beginnend mit der göttlichen Erschaffung der Welt, den Erzählungen über die ersten Generationen Adam, Noah bis hin zu Abraham, die Herausbildung der Kinder Israel, ihren Exodus aus Ägypten und die Gabe der Tora am Sinai, die Zehn Gebote sowie weitere Gesetze, etwa im Priesterkodex und im Heiligkeitskodex, außerdem Bestimmungen über das soziale Zusammenleben und den Umgang mit dem Land, ferner Geschichten während der 40-jährigen Wüstenwanderung und schließlich Moses große Reden an das Volk, bevor er selbst sterben sollte und das Volk in das von Gott versprochene Land ziehen würde.
Die „mündliche Tora“, d. h. die Mischna, wurde im 2. Jahrhundert u. Z. unter der Redaktion des in Palästina lebenden rabbinischen Oberhauptes Jehuda ha-Nasi (ca. 165–217) kodifiziert. Gegenüber den fünf Büchern Mose besteht sie aus sechs Ordnungen. Diese erzählen jedoch keine Geschichten, sondern enthalten Gesetzessammlungen für das Leben im heiligen Land. Die Ordnungen sind nach sechs Oberthemen strukturiert: 1. Landwirtschaft (Sera’im/„Saaten“); 2. Feste (Mo’ed/„Feiertag“); 3. Eheleben (Naschim/„Frauen“); 4. Gesellschafts- und Arbeitsrecht (Nesikin/„Schäden“); 5. Heiligtum (Kodaschim/„heilige Dinge“); 6. Rituelle Reinheit (Taharot/„Reinigungen“). 4Jede dieser Ordnungen enthält mehrere Traktate zu Unterthemen, etwa die Ordnung Seraim („Saaten“) über den Umgang mit dem Land, das Stehenlassen der Ecken, die Abgaben der Zehnten, das Beschneiden der Bäume usw.; oder die Ordnung Mo’ed mit Traktaten, die detaillierte Bestimmungen zu den einzelnen jüdischen Festen enthalten; oder die Ordnung Naschim mit Traktaten über Ehegesetze, Scheidungen, Umgang mit Ehebruch usw. Im Unterschied zur Tora ist hier jedoch nicht von „Gesetzen und Satzungen“ (chukim u-mischpatim) die Rede, sondern von der Halacha, dem rabbinischen Begriff für das jüdische Recht (siehe hierzu auch den Beitrag von Walter Homolka, S. 227).
Nur zu einem kleinen Teil decken sich die Gesetzessammlungen der Mischna mit den Gesetzen der schriftlichen Tora. In einem viel größeren Maß erweitern sie diese, erneuern sie und beziehen ganz neue Rechtsgebiete in den jüdischen Gesetzesradius ein. Anders als die Gesetze in der schriftlichen Tora sind die Bestimmungen in der Mischna nach dem rabbinischen Verständnis nicht unbedingt von Gott geoffenbart, sondern von den Rabbinen selbst formuliert und in Ansätzen auch schon in dem für den Talmud typischen, diskursiven Stil verfasst. So beginnt das erste Traktat in der Mischna, das Traktat Schabbat, mit einer Frage und mehreren möglichen Antworten:
Von wann an liest man das Schema [‚Höre Israel‘] am Abend? – von der Stunde an, da die Priester [in das Heiligtum] eintreten, von ihrer Hebe zu essen, bis zum Schluss der ersten Nachtwache – so R. Elieser. Die Weisen sagen, bis Mitternacht; R. Gamliel sagt, bis die Morgenröte aufsteigt. 5
Der Talmud-Wissenschaftler Jacob Neusner bezeichnet die Beziehung zwischen der schriftlichen und der mündlichen Tora als das System der „dualen Tora“. 6Es entsteht aus einer Doppelspur, die die gesamte rabbinische Literatur durchzieht. Sie hat ein gigantisches Gebiet hervorgebracht, das auf einigen wenigen Seiten darzulegen kaum möglich ist und deshalb im Folgenden nur in groben Zügen skizziert werden kann. 7
Den Autoren der rabbinischen Literatur war es wichtig, die Doppelspur von schriftlicher und mündlicher Tora bis auf die Offenbarung am Sinai zurückzuführen. Hierzu findet sich ein aufschlussreiches Kapitel mit dem Titel Pirke Avot/„Sprüche der Väter“ in der Mischna. 8Es liest sich wie ein Who is Who der Gründerväter des rabbinischen Judentums. Nacheinander zählt es die wichtigen Protagonisten auf und zitiert sie mit ihnen zugeschriebenen ethischen Aussagen. Gleich im ersten Satz wird deutlich, dass sich die Autoren des rabbinischen Schrifttums in direkter geistiger Nachfolge von Moses verstehen.
Moses empfing die Tora am Sinai und überlieferte sie dem Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Propheten und die Propheten überlieferten sie den Männern der Großen Versammlung. Diese sagten drei Dinge: Seid überlegt bei euren gerichtlichen Entscheidungen; stellt viele Schüler auf; macht einen Zaun um die Tora. 9
Die „drei Dinge“ – als Richter nach den Gesetzen der Tora zu entscheiden, als Lehrer viele Schüler zu unterweisen und als Mitglieder dieser geistigen Elite die Definitionsmacht (= „Zaun“) über die Tora auszuüben – drückt die rabbinische Selbstermächtigung aus. Der Passus lässt die einstige Kontroverse erahnen. Es geht um die Legitimation der Rabbinen, die Tora zu „empfangen“, sie nach ihrem Verständnis zu interpretieren und der nächsten Generation weiterzugeben. Gemeint ist danach jedoch nicht nur die schriftliche, sondern gerade auch die mündliche Tora.
Dass sich die rabbinische Vorstellung, nach der beide Versionen der Tora zusammen am Sinai gegeben wurden, nicht ohne Weiteres durchsetzte, wie die oben angeführte talmudische Anekdote erkennen lässt, liegt auf der Hand. Die Vorstellung von der Gleichzeitigkeit einer schriftlichen und einer mündlichen Tora war unter den Juden in der Antike lange umstritten. Denn die Herausbildung einer zusätzlichen „mündlichen“ Tora verknüpfte sich auch mit einer neuen religiösen Praxis: Text- und Gesetzesstudium in Lehrhäusern (Beit Midrasch), Gottesdiensten in Versammlungshäusern (Beit Knesset, Synagoge) sowie einer Rechtspraxis in rabbinischen Gerichtshäusern (Beit Din), die die Gerichtsbarkeit der Priester und des Tempels verdrängte. Demgegenüber hielten die „konservativen“ Sadduzäer am Privileg der Priester und dem althergebrachten Tempelsystem fest. Sie bekämpften die Pharisäer, die in Pirke Avot als die Vorläufer der Rabbinen aufgeführt werden. Mit dem verlorenen Krieg gegen das Römische Reich und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 setzte sich jedoch das rabbinische Judentum mit seinem besonderen Tora-Verständnis endgültig durch.
Der Paradigmenwechsel: Esra – Schriftgelehrter und Exeget
So wie die schriftliche Tora für Juden noch nicht die ganze Tora darstellt, ist es ebenso unverzeihlich zu meinen, das sogenannte Alte Testament sei schon das Judentum. Die Bibel hat für Juden immer die unsichtbare Gefährtin der rabbinischen Literatur. Erst in der Verbindung mit der rabbinischen Literatur, erst im Lichte ihrer Interpretation, erhält die Bibel ihre Bedeutung für die jüdische Tradition. Streng genommen müsste man jedoch im Plural sprechen. Hinter der Gefährtin der Bibel stehen tausende von Rabbinen, deren Stimmen quer durch die Generationen im rabbinischen Schrifttum vereinigt sind. Wo aber nahm diese Doppelspur von Bibel und rabbinischer Literatur ihren historischen Anfang?
Die rabbinische Darstellung der eigenen Ursprünge zieht, wie oben angeführt, eine Linie zurück bis zu Moses. Demgegenüber würde die historisch-kritische Methode der Bibelwissenschaft den Beginn der Doppelspur in die Zeit von Esra im 5. Jahrhundert v. u. Z. legen, als die exilierten Juden aus der babylonischen bzw. persischen Gefangenschaft zurückkehrten. Einige von ihnen hatten noch die Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusalem erlebt. Erstaunlicherweise bedeutete der Verlust des einstigen zentralen Heiligtums, immerhin das Haus Gottes, in dem die regelmäßige kultische Begegnung des Volkes Israel mit seinem Gott praktiziert worden war, nicht das Ende dieser Begegnung. Der Talmud beschreibt die fortgesetzte Beziehung als die „Einwohnung“ Gottes, die Schechina, 10die stets mit den Israeliten ins Exil gezogen sei. 11Im Exil aber verlagerte sich der Ort der Begegnung vom einstigen Zentrum, dem Tempel in Jerusalem, in den heiligen Text. Die Begegnung sollte nunmehr stattfinden als der Umgang mit einer Tora, die Juden überall hin mitnehmen konnten und durch die sie miteinander verbunden blieben. Diese Politik des heiligen Textes, die sie aus dem babylonischen Exil zurückbrachten, sollte in den späteren Jahrhunderten das Überleben des jüdischen Volkes in der Diaspora möglich machen (siehe hierzu auch den Beitrag von Liliana Feierstein, S. 99).
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