Ein halbes Jahr nach der ersten CI-Operation sollte die OP auf der anderen Seite folgen. Intraoperativ stellte sich jedoch heraus, dass Matthias eine versteckte Mastoiditis (Entzündung des Warzenfortsatzes) hatte und die Implantation zunächst nicht erfolgen konnte. Knapp ein Jahr nach seinem ersten CI erhielt er dann sein zweites. Unsere Rehagruppe verjüngte sich, es waren endlich mehr Gleichaltrige wie Matthias mit CIs versorgt.
Aus beruflichen Gründen mussten wir zu Beginn der Kindergartenzeit unsere gewohnte Umgebung und unser gutes Netzwerk hinsichtlich der Versorgung von Matthias verlassen. Der Kindergarten in unserem neuen Wohnort war bereit, ihn als ‚Integrationskind‘ aufzunehmen und es hat wunderbar geklappt. Die Frühförderung lief in größeren Abständen weiter, ebenso die Reha in W. Die regelmäßigen Treffen mit ‚Gleichgesinnten‘ und Betroffenen war und ist für ihn genauso wie für mich sehr wichtig. Freundschaften sind entstanden.
Wermutstropfen waren eine notwendige Revisionsoperation und häufige Ausfälle des Sprachprozessors bzw. der externen Technik. Nach dem Kindergarten wurde er in die allgemeine Grundschule bei uns im Wohnort eingeschult.
Zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichtes konstatiert die Mutter: Durch die frühe CI-Versorgung ist ihm (und uns) mittlerweile ein weitgehend ‚normales‘ Leben ermöglicht worden. Matthias geht offensiv und selbstbewusst mit seiner Hörschädigung um.
Fallbeschreibungen über Erwachsene mit Hörschädigung:
Fallbeschreibung 4: Frau X, Mitglied eines Schwerhörigenkreises, schwerhörig
Sie berichtet: „Wie es mir als Schwerhöriger in einem Wartezimmer erging. Heftige Schmerzen im Kopf zwangen mich, den Arzt aufzusuchen. Das linke Ohr war durch eine Erkältung fast taub, am rechten trage ich eine Hörhilfe. Da ich mich auf diese nicht völlig verlassen kann …, schrieb ich alle Beschwerden auf einen Zettel, den ich bei der Anmeldung abgab. Dem Schalter gegenüber nahm ich Platz. Wenn dem Aufruf niemand folgte, fragte ich den Patienten neben mir, ob mein Name gefallen sei. Ich sei noch nicht dran, wurde mir entgegnet. Nach fast drei Stunden vergeblichen Wartens ging ich gleich den anderen für eine knappe Stunde nach Hause, um das Mittagessen anzusetzen; 15 Patienten waren noch vor mir. Als ich zurückkam, waren es noch fünf. Diese wurden nacheinander aufgerufen, zwei nach mir Angemeldete folgten, worauf ich im Sprechzimmer fragte, ob meine Karte verlegt sei. Fünfmal sei ich aufgerufen worden, aber niemals gekommen, sagte der Doktor vorwurfsvoll. Ich entschuldigte mich, dass ich den Aufrufen nicht gefolgt sei, und wies auf meine schriftliche Mitteilung hin.
Einer Sehschwachen gegenüber wären die Patienten wohl hilfsbereiter gewesen als mir, der Schwerhörigen. Ähnliches geschieht täglich und stellt unser Vertrauen zu gesunden Menschen auf eine harte Probe“ (aus: Fink 1989, 13f).
Fallbeschreibung 5: Martina J., CI (Cochlea-Implantat)-Trägerin, promoviert, tätig in einem großen pharmazeutischen Unternehmen
Frau J. war von Geburt an schwerhörig. Die Ursachen dafür sind unbekannt. Mit 7 Jahren erhielt sie ihr erstes Hörgerät, was aus heutiger Sicht als sehr spät einzuschätzen ist. Mit Hilfe ihrer Mutter, die sich sehr um ihr Kind bemühte, lernte sie gut und verständlich sprechen und wurde trotz ihrer Schwerhörigkeit altersgemäß in eine allgemeine Schule am Wohnort eingeschult.
Es stellte sich bald heraus, dass die Schwerhörigkeit progredient verlief. Dies konnte zunächst durch neue, leistungsstärkere Hörgeräte, die ca. alle 4 – 5 Jahre angepasst wurden, ausgeglichen werden. Im Schulalter nahm Frau J. die fortschreitende Schwerhörigkeit noch nicht bewusst wahr oder – so beschreibt sie es aus heutiger Sicht – sie wurde von ihr ignoriert, da sie so sein wollte, wie die anderen Kinder ihrer Klasse auch.
Trotz ihrer erheblichen Hörprobleme konnte Frau J. erfolgreich das Abitur ablegen, studieren und promovieren. Ab ihrem 30. Lebensjahr bekam Frau J. regelmäßig alle 2 – 3 Jahre Hörstürze, bei denen sich jedesmal ihr Gehör gravierend verschlechterte. Diese ca. 10 – 12 Jahre andauernde Phase endete mit einem weiteren Hörsturz, in dessen Folge sie auditiv kaum noch etwas wahrnehmen konnte. Ihr selber war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst, dass sie „taub“ geworden war. Mit Hilfe ihrer sehr leistungsfähigen Hörgeräte konnte sie noch immer einige tiefe Töne und Signale erfassen, was sie damals als „hören“ interpretierte und aus heutiger Sicht als ein „Kitzeln am Trommelfell“ beschreibt.
Bereits vor ihrer endgültigen Ertaubung hatte Frau J. vom „Cochlea Implantat“ gehört. Sie glaubte jedoch, dass man absolut taub sein müsse, ehe eine Implantation in Frage kommt. Nach näheren Erkundungen stellte sich heraus, dass bei Frau J. eine Implantation sinnvoll zu sein schien, und so ließ sie sich, etwa 13 / 4 Jahre nach der Ertaubung, implantieren. Als Gründe für ihre Entscheidung gibt sie an: „Ich wollte die Isolation, in die ich durch meine Ertaubung geraten war, nicht bedingungslos ertragen und war bereit, einen Versuch und auch ein Risiko einzugehen, um meine Lage zu ändern. Ich spürte als Ertaubte nicht nur meine eigenen Probleme, sondern auch die Probleme, die die Normalhörenden in meiner Umgebung (Familie / Freunde und Kollegen) mit mir hatten.
Ich konnte schon immer relativ gut absehen – das erforderte jedoch nach meiner Ertaubung ständige höchste Aufmerksamkeit, da die Kommunikation fast ausschließlich über ,Sehen’ erfolgte. Klar, dass bei dieser Anspannung und Dauer-Konzentration die Achtsamkeit mal nachließ. Entsprechend mühsam wurde infolgedessen dann die Kommunikation mit mir, wenn ich müde wurde. Absehen allein funktioniert auch nur gut im Zweiergespräch. Wenn mehrere Personen an der Unterhaltung teilnehmen, ist der Faden schnell verloren und die Unterhaltung fand dann meist – trotz aller Proteste – über meinen Kopf hinweg statt.“
Die Operation verlief komplikationslos und dauerte ca. 1 1 / 2 Stunden. Bereits am nächsten Tag konnte Frau J. ohne größere Schwierigkeiten aufstehen.
Schon eine Woche nach der Operation wurde der Sprachprozessor das erste Mal kurz ausprobiert, um zu wissen, ob das Implantat funktioniert. Frau J. beschreibt ihren ersten Höreindruck so: „Es war für mich ein unglaubliches (beeindruckendes) Erlebnis, ganz alltägliche Geräusche zu erkennen und zuordnen zu können. Z. B. das Klingeln eines Telefons oder das Plätschern von fließendem Wasser aus dem Wasserhahn. Ich war überwältigt – das hatte ich nicht erwartet. Nach einer halben Stunde musste ich das Gerät dann leider wieder abgeben, da der Heilungsprozess vor Dauereinsatz des CIs weiter fortgeschritten sein sollte.“
Die eigentliche Anpassung des Sprachprozessors erfolgte ca. vier Wochen nach der Operation.
Ein halbes Jahr nach der Implantation und der Sprachprozessoranpassung beschrieb Frau J. ihr Hören so: „Ich habe die letzten fünf Jahre vor der Operation weniger gehört als jetzt, Vogelgezwitscher, Signaltöne meines Autos, wenn der Sicherheitsgurt nicht geschlossen ist – das alles hörte ich schon lange nicht mehr. Aber jetzt.
Ich konnte mich noch gut erinnern, wie die Geräusche klangen, das kam mir bei der Gewöhnung an das CI zugute.
Als ich das CI neu bekam, klang eine menschliche Stimme etwa so wie eine Computer-Stimme. Ein bisschen künstlich, höher im Ton – aber doch verständlich. Vereinfacht wurde mir das Verstehen durch das Absehen. Je länger ich das CI trage, um so natürlicher erscheinen mir die Geräusche und die Sprache.
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