Aus der Äußerung (1) kann man ersehen, dass ein Absender meist mehr meint als er sprachlich explizit mitteilt. Eine sprachliche Äußerung erfüllt mehrere Funktionen gleichzeitig. Existenziell verschärft ausgedrückt: Ob wir das wollen oder nicht, wir kommunizieren mit einer Äußerung immer auf den drei Ebenen. Dabei geht das Gemeinte über das explizit Gesagte oder Geschriebene hinaus, der Adressat muss das Gemeinte oft erschließen. Damit wechseln wir die Seite und sind beim Verstehen.
Verstehen
Verstehen wird zunächst als subjektives Gefühl erfahrbar: Der Adressat versteht eine Rede oder ein Buch bzw. er versteht, was der Absender damit meint. Dahinter steckt eine geistige Aktivität des Adressaten einer Mitteilung, die nicht direkt beobachtbar ist: Er konstruiert auf der Basis der Mitteilung mit Hilfe verschiedener Folgerungen – Fachwort: Inferenzen – ein bzw. sein Verständnis . Es muss ausdrücklich betont werden, dass keine Information vom Absender zum Adressaten fließt, deshalb ist im Bild 1 kein Pfeil vom Absender zum Adressaten durchgezogen, sondern zwei Pfeile zeigen von beiden Seiten auf die Mitteilung. Verstehen bedeutet keine spiegelbildliche Abbildung von Wissen des Absenders beim Adressaten! Der Absender gibt dem Adressaten mit der Mitteilung etwas zu verstehen. Dieses Verstehen umfasst ebenfalls die drei Funktionen der Kommunikation.
Inhaltliches VerstehenVersteheninhaltlich. Wörtliches Verstehen ist das Ergebnis zahlreicher Verarbeitungsprozesse, die meist nicht bewusst sind: Über die Wörter werden Begriffe aktiviert und über die Syntax werden Beziehungen zwischen den Begriffen hergestellt (bottom-up). Über die aktivierten Begriffe wird wiederum VorwissenVorwissen aktiviert, das zu weiterführenden Inferenzen führt (top-down). Wer die Mitteilung (1) versteht, der muss wissen, was ein Kernkraftwerk ist (Stromerzeugung), welche Abfälle dort anfallen (Brennstäbe) und wie sie entsorgt werden können (Endlagerung). Die verwendeten Wörter und syntaktischen Konstruktionen bestimmen nicht das Verständnis, aber sie setzen deutliche Grenzen (constraints). Das Verstehen selbst einer einfachen Äußerung ist ohne Inferenzen nicht möglich. Das externalisierte Wissen ermöglicht dem Adressaten einen Einblick in das Wissen und Denken des Absenders.
Intentionales VerstehenVerstehenintentional. Hier geht es um das Erkennen der Intentionen, die mit der Mitteilung verbunden sind. Warum hat sie mir das gesagt? Warum hat er das geschrieben? Welche Absicht steckt hinter einer Formulierung? Das intentionale VerstehenVerstehenintentional wertet in der mündlichen Kommunikation zusätzliche Zeichen aus wie Prosodie, Mimik, Gestik, in der schriftlichen Kommunikation sind die Absichten des Schreibenden oft schwerer zu verstehen. Bei der Äußerung (1) kann der Adressat die Intention erschließen, dass der Absender ihn zu einem Engagement gegen die Kernkraft oder zum Eintritt in eine Partei überzeugen will. Auch das intentionale Verstehen erfordert Inferenzen aufgrund von Vorwissen, Erfahrungen und Situation. Dazu trägt auch das Image bei, das der Adressat vom Absender als Vertreter einer bestimmten Institution hat.
Expressives VerstehenVerstehenexpressiv. Hier geht es um das Verstehen, was der Absender mit seiner Mitteilung über sich ausdrücken möchte oder unbewusst ausdrückt. Dieses Verstehen setzt ein gewisses Maß an Empathie Empathie voraus. So kann ein Adressat durch die Mitteilung erkennen, dass der Absender besorgt ist, vielleicht ein ängstlicher Mensch, vielleicht ein Hysteriker. Oliver Scholz (2016) hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich das Verstehen von Texten vom Verstehen von Personen nicht klar abgrenzen lässt. Wenn ich z.B. einen Brief lese, so möchte ich den Text verstehen (inhaltliches Verstehen), aber auch den Absender des Briefes (intentionales und expressives Verstehen). Wer einen Text versteht, der versteht auch zu einem Teil seinen Urheber. Texte können deshalb als Grundlage für psychologische Diagnosen dienen (Tergan, Knäuper & Ballstaedt, 2003).
Fassen wir mit einem Zitat zusammen: „Verbal comprehension starts with the recovery of a linguistically encoded sentence meaning, which must be contextually enriched in a variety of ways to yield a full-fledged speaker’s meaning“ (Wilson & Sperber, 2004, S. 259). Verstehen ist stets das Resultat einer Wechselwirkung von textgeleiteten (bottom-up) und wissengeleiteten (top-down) Verarbeitungsprozessen. In das Verstehen gehen damit Merkmale des Textes, aber auch Merkmale der Beteiligten ein (Ballstaedt & Mandl, 1988)4. Das Resultat des Verstehens ist ein Verständnis der Mitteilung. Dabei ist diese Trennung zwischen Prozessen (Verstehen) und Struktur (Verständnis) etwas künstlich, denn Strukturen sind kurzzeitig verfestigte Prozesse und Prozesse sind Strukturen in Veränderung (Kintsch, 1974).
Erfolgreiches Verstehen erfolgt auf allen drei angesprochenen Ebenen: Der Adressat versteht Inhalt, Intention und Ausdruck. Die Ebenen des Verstehens können dissoziieren: Eine Person versteht, was gesagt wird, aber versteht nicht, warum es gesagt wird, welche kommunikative Intention dahinter steht (Bublitz & Kühn, 2009). Verstehen auf allen drei Ebenen ist eine anspruchsvolle Aufgabe und misslingt deshalb immer wieder. Da es hier um Fachtexte bzw. expositorische Texte geht, werden nur das inhaltliche und das intentionale VerstehenVerstehenintentional thematisiert, das expressive VerstehenVerstehenexpressiv wird – wie übrigens in den meisten Verstehenstheorien – vernachlässigt.
Zusatzmaterial 1: Übung zum Vergleich von Kommunikationsmodellen
2.2 Verständigung als KooperationKooperation
Nachdem das Umfeld der Kommunikation, in dem Verstehen stattfindet, skizziert ist, steuern wir nun auf den Begriff der Verständlichkeit zu. In der Alltagssprache bezeichnen wir einen Text – z.B. eine Rede oder einen Aufsatz – als leicht verständlich, wenn wir ihn spontan und mühelos verstehen. Ein Text, bei dem wir uns um das Verstehen bemühen müssen, bezeichnen wir als schwer verständlich, wenn wir daran scheitern als unverständlich. Scheinbar ist dabei Verständlichkeit eine Eigenschaft eines Textes mit mehr oder weniger großer Ausprägung. Dabei vergessen wir aber, dass jeder Text Teil eines Kommunikationsprozesses ist, in dem eine Person sich mündlich bzw. schriftlich in einer Mitteilung äußert, die eine andere Person hört bzw. liest und zu verstehen versucht. In diesem störanfälligen Kommunikationsprozess entsteht Verständlichkeit erst in einer konkreten Kommunikation. „Der Text als Artefakt hat keine Verständlichkeit an sich, sondern erhält Zuschreibungen von Verständlichkeit erst durch seine Einbettung in einen kommunikativen Zusammenhang“ (Lutz, 2015, S. 188). Das kann man daran erkennen, dass ein Adressat einen Text leicht verständlich findet, ein anderer Adressat aber denselben Text schwer verständlich. Wie kommt Verständlichkeit in der Kommunikation zustande?
AdressatenorientierungAdressatenorientierung
Verständlichkeit ist zunächst eine Aufgabe für einen kooperativen Absender, der sich bemüht, dass seine Mitteilung für den Adressaten zu verstehen ist, indem er dessen Intentionen und Vorverständnis berücksichtigt und adressatenorientiert formuliert. Verständliche Kommunikation ist immer adressiert, d.h. auf eine bestimmte Person oder eine bestimmte Adressatengruppe ausgerichtet. Der Absender sucht dabei einen Kompromiss zwischen Verständlichkeit und sprachlichem Aufwand. Er formuliert gerade so ausführlich, dass er vom Adressaten mit einem Minimum an Verarbeitungsaufwand verstanden wird. Der Absender befolgt die Maxime: „Sorge dafür, dass dein Adressat dich versteht!“ Aber er versucht das selbst mit möglichst wenig Ressourcen beim Formulieren zu erreichen: „Wende dafür nicht zu viel Energie auf.“1
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