Dieses Buch behandelt die sprachliche Verständlichkeit. Eine Ergänzung für verständliche Bilder findet sich in meinem Buch „Visualisieren. Bilder in wissenschaftlichen Texten“ (Ballstaedt, 2011).
2 Sprachliche Kommunikation: Meinen und Verstehen
In diesem Kapitel werden das Verstehen und die Verständlichkeit in ein Modell der Kommunikation eingebettet. Zuerst werden die Komponenten des Modells vorgestellt (2.1). Danach wird die Verständigung als eine Kooperation zwischen Absender und Adressat beschrieben (2.2). Beide Seiten müssen dazu beitragen, damit eine Mitteilung aus sprachlichen Zeichen verstanden wird.
2.1 Ein Modell der Kommunikation
Bild 1:
Ein Modell der Kommunikation, das wie jedes sozialwissenschaftliche Modell nur eine grobe Orientierung bietet und das Forschungsfeld mit seinen wichtigsten Einflussgrößen vorstellt.
Kommunikation ist eine Interaktion mittels Zeichen, die dazu dient, wechselseitig das Verhalten oder das Erleben des jeweiligen Adressaten zu beeinflussen. Jede Kommunikation zwischen Absender und Adressaten – mit welchem Zeichensystem auch immer – spielt sich in einem Feld mit zahlreichen Einflussgrößen ab, die im Bild 1 in einem Modell visualisiert sind.
Kommunikative Situation
Jede Kommunikation ist situiert, sie ist in eine Situation eingebettet. In der mündlichen Kommunikation besteht die Situation aus einem Wahrnehmungsumfeld und aus einer sozialen Situation. 1 Entscheidend ist dabei, dass allein die mentale Repräsentation der Situation im Kopf eines Absenders und Adressaten, ihre „Definition der Situation“ für die Sprachproduktion sowie das Sprachverstehen relevant sind. Es handelt sich nicht um objektive Gegebenheiten, sondern um subjektive mentale Konstrukte. Hier darf das berühmte Zitat nicht fehlen: „If men define situations as real, they are real in their consequences“ (Thomas & Thomas, 1928).
WahrnehmungsumfeldWahrnehmungsumfeld. In der mündlichen Kommunikation gehört zur Situation die gemeinsam wahrgenommene räumliche und zeitliche Umwelt, das Setting , in dem sich die Kommunikationspartner befinden und auf das sie sich mit Zeigegesten und deiktischen Ausdrücken beziehen können. Ein Kommunikant kann den anderen gestisch oder sprachlich auf einen Aspekt des Settings aufmerksam machen. Wichtig ist auch hier, dass Absender und Adressat die Umwelt nicht unbedingt gleich wahrnehmen, ihre visuelle Aufmerksamkeit kann sich auf unterschiedliche Aspekte des Settings beziehen, sie nehmen verschiedene PerspektivenPerspektive ein. Jede Gesellschaft schafft institutionalisierte Settings wie z.B. einen Hörsaal, ein Museum, einen Supermarkt mit bestimmten Gegenständen, die bestimmte Handlungen ermöglichen.
Soziale Situation. Jede Kommunikation findet in einer bestimmten sozialen SituationSituationsoziale statt, die soziale Rollen und die dafür geltenden Konventionen umfasst. Diese haben wir in der Sozialisation gelernt und halten sie meist unbewusst ein. In einem Gespräch fühlen wir uns nur sicher, wenn wir wissen, „was vor sich geht“ (Goffman, 1977), d.h. in welchem sozialen Kontext wir uns befinden. Zur sozialen Situation gehören oft noch andere Personen wie Mithörer (z.B. in einer Gruppe), aber auch unbeteiligte Zuhörer. Innerhalb von Institutionen gibt es klar definierte soziale Situationen, z.B. eine Prüfung, ein Verhör, ein Restaurantbesuch. Sie beeinflussen, welche Inhalte in welcher sprachlichen Form (Wortwahl, Satzbau, Rhetorik) geäußert werden.
Wenn wir in der Sprechstunde einen Arzt oder eine Ärztin konsultieren, befinden wir uns in folgender kommunikativen SituationSituationkommunikative. Das Setting ist bekannt: Ein Schreibtisch mit Computer, Blutdruckmessgerät, daneben ein Stuhl für den Patienten und eine Liege für Untersuchungen usw. Die Situation bestimmt Inhalt und Form der sprachlichen Kommunikation. So stehen die Themen Gesundheit und Krankheit im Fokus. Wir erwarten und akzeptieren Fragen, die in anderen Situationen nicht angebracht sind: Wie klappt es mit dem Wasserlassen? Wie oft findet Geschlechtsverkehr statt? Wie viel Alkohol wird pro Tag getrunken? Gab es bereits Depressionen in der Familie? usw. Dabei herrscht eine strenge Komplementarität, denn Patienten dürfen derartige Fragen an den Arzt nicht stellen. Der Patient wird dem Arzt oder der Ärztin gegenüber seine Beschwerden anders formulieren als in der Familie. Während er in den heimischen vier Wänden oft furzen muss, spricht er in der Praxis von Blähungen, der Arzt von abgehenden Winden, Flatulenz oder Meteorismus. Der Patient ist auch bereit, sich auszuziehen – in diesem Kontext sich „freizumachen“, das direkte Wort „ausziehen“ wird diskret vermieden. Wir lassen uns an Körperstellen anfassen, die sonst der Intimkommunikation vorbehalten sind. Wir erwarten vom Arzt dabei einen nüchternen klinischen Blick. Wenn er zu einer Patientin sagt: „Sie haben einen hübschen Po“, so wäre diese wahrscheinlich irritiert, die Äußerung ist nicht situationsangemessen, der Arzt ist damit „aus dem Rahmen gefallen“.
Die kommunikative SituationSituationkommunikative ist eine Schnittstelle, an der die Gesellschaft mit ihren Institutionen und die Personen mit ihren Intentionen aufeinandertreffen. Sie ist nicht statisch, sondern verändert sich mit der Entwicklung der Interaktion zwischen den Beteiligten.
In der schriftlichen Kommunikation ist den Beteiligten die Kommunikationssituation meist weniger bewusst. Hier fehlt das gemeinsame Wahrnehmungsumfeld und die Kommunizierenden sind sich oft nicht bewusst, dass sie sich in einer sozialen Situation befinden.
Wenn ein Studierender eine Masterarbeit schreibt und eine Professorin sie später liest, befinden sich beide ebenfalls in einer institutionellen sozialen Situation. Der Studierende weiß, was seine Betreuerin inhaltlich gern lesen möchte und er kennt die Regeln wissenschaftlicher Argumentation. Zudem kennt er den akademischen Schreibstil der jeweiligen Disziplin, er schreibt also adressatenorientiert und passt sich sozialen Normen an.
Van Dijk & Kintsch (1983) haben ein „communicative context model“ eingeführt, van Dijk (2008) hat diesen Ansatz weiter ausgearbeitet. In dieses mentale Modellmentales Modell wird alles Wissen über die kommunikative Situation hineingesteckt: die geltenden Konventionen, die Images der Beteiligten, ihre Intentionen und ihr Vorwissen.
AbsenderAbsender und AdressatAdressat
Voraussetzung für Kommunikation sind Akteure: ein Absender, der mit einer Mitteilung etwas meint und ein Adressat, der durch die Mitteilung etwas versteht . Im mündlichen Dialog wechseln Absender und Adressat laufend ihre Rollen, beim Schreiben bleibt die Kommunikation oft einseitig. Das Modell stellt sozusagen nur einen eingefrorenen Moment in der Interaktion dar. Absender und Adressat fassen wir als Kommunikationspartner zusammen. Beide treten in die Kommunikationssituation mit unterschiedlichen Motiven und Intentionen sowie verschiedenen Wissensbeständen ein.
MotiveMotiv und IntentionenIntention
Die beiden oberen Ellipsen im Modell stehen für die basalen Motive (= Beweggründe), die sich in konkreten Intentionen (= Zielen) von Absender und Adressat manifestieren. Welche Basismotive die Menschen antreiben, dazu hat die Motivationspsychologie zahlreiche Ansätze geliefert, allerdings nur mit geringer Übereinstimmung. In das Gestrüpp der Triebe, Anreize, Motive, Bedürfnisse, Interessen usw. werden wir uns hier nicht begeben. Wir bleiben auf einer formalen Ebene.
Nach Michael Tomasello (2009, S. 95ff.) liegen der unendlich großen Zahl an IntentionenIntention drei evolutionär entstandene basale Kommunikationsmotive zugrunde.
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