Bloß gut, dass Jule nicht sehen konnte, wie sie die Strecke bis zur Ortsmitte entlang schlich. Sie hätte sich bestimmt darüber lustig gemacht. Unterwegs kam Pauline die Idee, sich einen Reiseführer von Amrum zu kaufen. Den konnte sie nutzen, wenn sie wieder in Hameln war und die Orte des Geschehens nicht mal eben persönlich aufsuchen konnte. Wenig später betrat Pauline die Norddorfer Buchhandlung und spürte sofort wieder dieses sonderbare Gefühl, das sie immer überkam, wenn sich unzählige Bücher um sie herum stapelten. Bücher zogen sie magisch an und sie liebte es, stundenlang in Bibliotheken und Buchhandlungen zu stöbern. Einen Inselführer hatte Pauline schnell gefunden. Bevor sie zur Kasse ging, schlenderte sie von einem Buchregal zum nächsten und sah sich um. Vor dem Regal mit Frauenunterhaltungsromanen blieb sie besonders lange stehen und studierte sämtliche Titel. Ob es hier auch Bücher von Lynn Berger gab? Tatsächlich, da standen sie. Paulines Herz flatterte plötzlich aufgeregt.
Sie bemerkte flüchtig eine Bewegung links neben sich.
„Entschuldigung. Darf ich Sie kurz stören?“, hörte sie im gleichen Augenblick eine männliche Stimme. Sie blickte sich um. Der Mann neben ihr machte einen ziemlich hilflosen Eindruck.
„Ja, bitte?“ Meine Güte, sah der gut aus. Groß, schlank, braun gebrannt, blonde Lockenmähne. Irgendwie verkörperte er das Image eines Surfers, fand Pauline.
„Ähm … ich suche einen Frauenroman. Nicht für mich …“, er zwinkerte Pauline zu, „… sondern für eine junge Dame, Mitte zwanzig.“
„Aha.“ Für seine Frau oder Freundin vermutlich. Wieso waren die süßesten Typen eigentlich entweder gebunden oder schwul? Na ja, egal. Sie hatte sowieso die Nase voll von Männern.
„Ich habe keine Ahnung, was ich nehmen soll“, sagte er entschuldigend.
„Liest die Dame eher moderne Romane oder historische? Vielleicht was Leidenschaftliches?“
Der Blondgelockte zuckte wieder hilflos mit den Schultern. „Wenn ich das wüsste.“
Na, vielleicht hätte er mal in das Bücherregal besagter Dame sehen sollen. Sollte sie ihm vielleicht … Nee, doch … Das wäre die Chance. Nach kurzem Zögern ergriff Pauline die Gelegenheit. „Nächte voller Leidenschaft und Chris und die Liebe von Lynn Berger kann ich Ihnen sehr empfehlen.“
„Kennen Sie die?“
„Ja. Ich kenne sie in- und auswendig.“ Pauline versuchte, ihre Aufregung zu verbergen. Was gar nicht so einfach war, denn das Herz hämmerte in ihrer Brust und ihre Wangen brannten. Sicherlich hatte sie wieder diese hektischen roten Flecke am Hals, wie immer, wenn sie aufgeregt war. Aber das konnte sie nicht ändern. Wann hatte man schon die Gelegenheit, die eigenen Bücher zu empfehlen, ohne dass die Person gegenüber ahnte, vor der Autorin höchstpersönlich zu stehen. Pauline zog beide Romane aus dem Regal und hielt sie ihrem Gegenüber hin.
Er griff sich die Bücher, warf einen Blick auf die Klappentexte und nickte Pauline zu. „Danke für Ihren Tipp. Ich nehme beide.“
„Gute Wahl.“ Na, wenn das kein erfolgreicher Tag war. Verwundert sah Pauline dem Mann nach, der mit ihren Büchern der Kasse zustrebte. Von dort aus winkte er ihr noch einmal mit einem strahlenden Lächeln zu. Pauline musste ein paar Mal tief durchatmen, bevor ihr Puls wieder in einem normalen Rhythmus pochte. Erst dann war sie in der Lage, sich auf das Bücherangebot vor ihr zu konzentrieren.
Eine halbe Stunde später verließ Pauline, bepackt mit drei Frauenromanen, dem Amrumführer und einem neuen Notizbuch, die Buchhandlung. In das Notizbuch würde sie hoffentlich bald neue Schreibideen eintragen können, denn genau dafür hatte sie es gekauft. Das konnte sie, im Gegensatz zum Laptop, immer und überall bequem bei sich tragen, damit sie ihre Einfälle sofort aufschreiben konnte. So, erst mal einen Cappuccino. Den hatte sie sich redlich verdient. Pauline betrat das nächstgelegene Café und suchte sich einen Platz am Fenster. Von hier aus konnte sie die vorbeiflanierenden Menschen, aber auch diejenigen, die drinnen an den Tischen saßen, hervorragend beobachten und vielleicht gleich das Notizbuch einweihen. Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Kugelschreiber und legte ihn sorgsam neben den Bücherstapel auf den Tisch. Sie wartete. Auf eine Idee, darauf, dass ein interessanter Mensch in ihr Blickfeld geriet. Doch es schienen nur unscheinbare Menschen unterwegs zu sein. Die passten einfach nicht in so einen amüsanten Roman, wie ihre Lektorin ihn haben wollte. Oder doch? Wenn doch bloß nicht diese gähnende Leere in ihrem Kopf wäre. Es war zum Verzweifeln. Plötzlich stutzte Pauline. Das war doch … Ja richtig. Der Typ aus der Buchhandlung blieb draußen vor dem Café an einem der Tische stehen und begrüßte einen älteren Herrn. In der Papiertüte mit dem Schriftzug der Norddorfer Buchhandlung, die er in der Hand hielt, befanden sich sicherlich ihre Bücher. Er setzte sich dem anderen Herrn gegenüber, legte die Tüte – vorsichtig bitte! – auf den Stuhl neben sich und winkte der Bedienung zu, die zwei Tische weiter kassierte.
„Darf’s noch was sein?“
Pauline hatte gar nicht bemerkt, dass eine Kellnerin an ihren Tisch getreten war. „Noch ’n Cappu, bitte.“ Sie wandte ihren Blick wieder nach draußen. Inzwischen schienen die beiden Männer in ein intensives Gespräch versunken zu sein. Zu gern würde sie mithören. Nicht, dass sie neugierig war. Keinesfalls. Aber es interessierte sie brennend, was der Mann, der dem Surferimage alle Ehre machte, zu erzählen hatte. Ob sie sich nach draußen an den frei gewordenen Nachbartisch setzen sollte? Lieber nicht, das wäre vermutlich zu auffällig. Pauline nagte an ihrer Unterlippe. Konnte der ein Kandidat für ihr Manuskript sein? Pauline beobachtete ihn weiter und schlürfte ihren Cappuccino. Schade, dass sie nicht Lippenlesen konnte. Denn die meiste Zeit redete er. Der alte Herr warf nur ab und zu ein paar Worte ein. Warum hatte sie in der Buchhandlung nicht auf seine Augenfarbe geachtet? Zu dumm. Sicherlich waren sie blau – himmelblau! Voll das Surferklischeeblau. Pauline seufzte und zog das rote Notizbuch mit den weißen Punkten zu sich heran. Fast ehrfurchtsvoll öffnete sie es und schrieb in schwungvoller Schrift Amrumroman auf die erste Seite. Darunter Charaktere. Welchen Namen ihm seine Eltern wohl gegeben hatten? Ein ausgefallener, englischer Name würde gut zu seinem Aussehen passen. Sie stützte die Arme auf dem Tisch ab, ihr Kinn in die Hände und versank in ihren Betrachtungen. Auf einmal registrierte sie, dass der Blondschopf seinen Blick in ihre Richtung lenkte und einen Moment verharrte. Ob er bemerkt hatte, dass sie ihn seit geraumer Zeit anstarrte? Rasch beugte sie sich über ihr Notizbuch und tat so, als würde sie etwas aufschreiben. Als sie nach einiger Zeit ihren Kopf hob, war er verschwunden – der alte Herr ebenfalls. Enttäuscht klappte Pauline ihre Kladde zu und rief der Bedienung zu, dass sie zahlen wolle.
Als sie aus der Tür stürmte, um wenigstens noch einen letzten Zipfel von ihm zu erhaschen, prallte sie voller Wucht gegen die Brust eines Menschen, der eben im Begriff war, das Café zu betreten.
„Ups, sorry“, murmelte Pauline und rieb sich ihre Nase. Die hatte beim Aufprall am meisten gelitten. Sie blickte auf – in zwei surferklischeeblaue Augen. Hach … leider war ihr Gegenüber nicht der Mann, den sie am liebsten vor sich gehabt hätte. Dieser hier trug ein Kleinkind auf dem Arm, wie sie enttäuscht feststellte. Außerdem hatte er eine Glatze und sah bei Weitem nicht so gut aus.
„Haben Sie sich wehgetan?“
„Nö, geht schon.“ Pauline drückte sich an dem Mann vorbei und stürmte nach draußen. Sie sah rechts und links die Straße entlang. Nichts. Der Surfertyp war verschwunden. Wäre ja auch zu schön gewesen. Vermutlich würde sie ihm sowieso nie wieder begegnen. Außerdem gab es da diese Frau, für die er die Bücher gekauft hatte, rief sie sich ins Gedächtnis.
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