Elvira nickt. „Ja, aber...“
Oma Katharina lächelt. “Jede Freundschaft bedeutet auch Verzicht. Leon war früher nicht jede Nacht bei mir und heute ist er es auch nicht. Aber wir verstehen uns auch ohne Worte. Das macht eine besondere Freundschaft aus. Wenn wir dann zusammen sind, dann ist das wunderbar. Eins habe ich damals von Mila gelernt. Wir müssen begreifen, über den Schatten unserer Verletzbarkeit zu springen. Dann werden wir frei, und dann beginnen wir das Leben ganz neu zu genießen. Mach dir also keinen Kopf. Mir geht es gut. Ich habe Leon und Vera glücklich gemacht. Die Familie ist wieder einen Schritt weitergekommen. Mir geht es gut. Glaube mir.“
Elvira kann nur zwei Tage in Berlin bleiben. Opa hat die Kinder der Familie nach Peru eingeladen. Nicht die eigenen, sondern alle seine Enkelkinder, also die dritte Generation. Es gibt einige Geburtstage, die gefeiert werden müssen. Sie werden sich oben bei Onkel Nakoma treffen, auf diesem riesigen Gestüt, das Nakoma besitzt. Die vielen Geschwister werden zum ersten mal mindestens eine Woche zusammenbleiben, um ihre Kräfte gemeinsam zu üben.
Elvira kennt die Geschichten um die Begründung der Familie. Oma Katharina und Lara hatten ihr das oft genug erzählt. Wenn du leben willst, hatten sie gesagt, dann musst du etwas über deine Geschichte wissen. Deine Geschichte ist die Geschichte deiner Familie, und die hat genaugenommen mit Opa Leon begonnen. Alles was vorher war, das ist nicht wirklich von Bedeutung, denn Opa Leon hat zum erstenmal die Kräfte entwickelt, die heute alle unsere Familienmitglieder kennzeichnen. Nicht die eingeheirateten, aber die Kinder und Enkelkinder von Leon. Das verpflichtet. Diese Kräfte machen dich zu etwas Besonderem, hatte Tante Lara gesagt, aber wir dürfen uns nie überheblich zeigen. Lerne von deiner Familie.
Lara ist die Tochter von Opa Leon und Oma Katharina in Berlin. Sie ist ein Genie. Lara hat eine eigene Werbeagentur und sie hat eine Filmgesellschaft, die vorwiegend Videoclips für Musiker und für die Werbung dreht. Lara ist oft bei Ihrer Mutter im Musikzentrum. Schließlich leitet Oma Katharina dieses Zentrum seit über 40 Jahren. Lara kennt all diese Musiker, Tänzer und die Cracks in den Halfpipes, die im Zentrum ein- und ausgehen. Sie hat vielen dieser Cracks zu Bekanntheit und Ruhm verholfen und sie hat Elvira schon viele Kontakte in ihrem erst zwölfjährigen Leben vermittelt.
Weil Elvira bei Oma Katharina im Zentrum aufgewachsen ist, war Lara so etwas wie eine zweite Mutter für sie geworden. Lara ist nicht einfach nur Lara. Sie hat enorme übersinnliche Kräfte. Sie kann Menschen beeinflussen und steuern, und sie hat Elvira seit der Geburt in ihre „Schule“ genommen. Dann wohnen auch noch Pablo und Maria Anethé bei Oma. Zwei von Opas erwachsenen Kindern aus Peru. Sie haben in Berlin studiert. Pablo ist jetzt 27 und Maria ist 25. Sie arbeiten jetzt beim Fernsehen und in der Presse, aber sie wohnen immer noch bei Oma Katharina. Naja. Nicht direkt in der Wohnung. Auf der Etage gibt es mehrere Gästewohnungen, die für die Familie reserviert sind.
In einer dieser Wohnungen wohnen Pablo und Maria Anethé. Sie haben einen spanischen und einen altindianischen Namen. So heißt Pablo mit seinem zweiten Namen zum Beispiel Mathé, was soviel heißt, wie „der weise Heerführer“. Nun ja. Das war eine andere Kultur.
Maria und Pablo haben sich in Berlin richtig eingelebt. Pablo hat inzwischen eine Freundin. Sie ist Dänin und arbeitet mittlerweile bei einer Zeitung in Kopenhagen. Sie hatten sich über das Studium kennengelernt. Birthe hat eine Weile mit Pablo zusammen gewohnt, und auch Maria hat einen Freund. Ricky ist Engländer. Er managt Musikgruppen. Er hat im Zentrum ein großes Büro, er hat eine große Wohnung in Berlin, und er hat in London noch ein zweites Büro. Ricky ist gut im Geschäft. Durch Maria ist seine Zukunft natürlich gesichert. Maria hat durch Oma Kontakte, die Ricky viele Türen aufschließen können.
In letzter Zeit hat Elvira zu Pablo und Maria jedenfalls nicht soviel Kontakt gehabt. Sie sind viel unterwegs und sie gehen jetzt ganz in ihrem Job auf. Sie haben manchmal Konferenzen mit Oma und Katharina, wo sie Elvira nicht mitnehmen, aber sie sind natürlich auch oft bei Oma zu Besuch. Manchmal zum Frühstück, oder am Abend. Dann wird immer viel gelacht und es werden Dinge besprochen, die Elvira hochinteressant findet. Manches kann sie mit ihren 12 Jahren auch noch nicht verstehen.
Opa Leon hatte fünf Kinder mit Oma Mila in Peru gezeugt und zwei Kinder mit Oma Katharina in Berlin. Dann war da noch Onkel Nakoma. Auch der ist Opas Sohn, aber der ist nur wenige Jahre jünger als Opa Leon, und das kam so: Opa Leon war in jungen Jahren mehrfach in Südamerika gewesen. Dort hatte er auch die Königsstadt der Péruche entdeckt. Ein purer Zufall? Vielleicht. Opa Leon hatte irgendwelche Schwingungen gespürt, dann war er mit seinen Gedanken in die Erde unter ihm gekrochen. Dann hatte er gegraben, und er hatte Wertvolles gefunden. zwei Wochen später war er wieder da, diesmal in Begleitung von Oma Mila und einem Indio, den sie in den Bergen aufgelesen hatten, und der ihnen als Führer gedient hatte. Das ist Nakoma. Wie durch ein Wunder hatte er plötzlich auch die Kräfte erhalten, die Elviras Familie auszeichnen.
Elvira ist mit den Geschichten der Familie vertraut, aber sie ist weit davon entfernt, alle Enkelkinder von Opa zu kennen. Onkel Nakomas fünf Kinder haben selbst schon fast alle Kinder, und zusammengenommen hat Opa heute schon weit über 60 Kinder und Enkelkinder. Da ist es schon schwer, alle zu kennen und alle Namen zu wissen. Sie leben ziemlich verstreut in Amerika und in Deutschland. Elvira kennt nicht einmal die Hälfte davon. Dass es so viele Enkelkinder sind, liegt auch daran, dass Elviras Vater Paco und Onkel Fred so viele Kinder in die Welt gesetzt hatten, teils wahllos und teils ganz bewusst. Elviras Vater hatte es getrieben, wie ein durchgeknalltes Karnickel, und Elvira ist nicht stolz darauf, aber es ist nun mal so, wie es ist.
Von diesem Geschehen in Amerika ist Elvira immer weit weg gewesen. Sie ist hier in Berlin geboren und sie ist hier aufgewachsen. Sie kennt Lara, Pablo und Maria Anethé und sie kennt auch Irina und Dimmy, die jetzt bei Opa Leon in Wittenberge wohnen. Sie kennt einige der Geschwister in Peru und Mexiko. Viel mehr weiß Elvira nicht über die weitverzweigten Familienverbindungen.
Als Irina im Spätsommer gefordert hatte, dass sich die Kinder und Enkelkinder von Opa Leon endlich alle kennenlernen sollten, damit die Familie ihren Zusammenhalt wiederfindet, hatte Elvira das richtig gut gefunden. Sie war erst zwölf und bisher war das nicht ihre Sorge gewesen, aber der Vorfall dort in Amerika hatte sie nachdenklich gemacht. So etwas wie mit Boris durfte nie mehr passieren. Es war das erste Mal, dass ein Mitglied der Familie seine Kraft verloren hatte. Sie würden sich in Demut üben müssen, das ist Elvira jetzt klar.
Anders als in Wittenberge, ist das geplante Treffen in Peru nur für die Enkelkinder der Familie. Alle Kinder, die irgendetwas von den übersinnlichen Fähigkeiten geerbt haben. Viele von ihnen sind darin nur ungenügend ausgebildet. Nicht alle werden kommen, aber vielleicht 30 oder 35. Elvira weiß das nicht genau.
Sie wird endlich einmal einen großen Teil der Geschwister kennenlernen und etwas über die Städte und Familien erfahren, in denen die einzelnen Kinder leben. Sie werden aber auch gemeinsam über die Hochebene reiten, dort in Peru, sie werden alle im Freien campieren. Sie werden sich in Tiere verwandeln und sie werden versuchen, elektrische Felder zu produzieren. Das wird sicher Abenteuer pur und es ist ein Stück Familie. Ihre leibliche Familie.
Elviras kleine Geschwister müssen zu Hause bleiben. Sie haben nicht das Blut von Opa Leon. Sie haben nicht die Kraft, durch den Raum zu gehen, so wie Elvira. Sie sind traurig, dass Elvira sie verlassen wird, aber Elvira wird ja wiederkommen. Mama hat Elvira an sich gedrückt. Sie weint ein bisschen. Nein, es ist keine Trauer. Es ist Glück, dass Elvira diese Chance bekommt. Juanita unterstützt Elvira in all diesen Dingen. Sie hat von Oma Katharina, von Opa Leon und von Lara gelernt, dass auch sie und all ihre Kinder ein Teil der Familie sind. Nicht so, wie Elvira, sie wird nie diese Kräfte haben, aber Elvira, die soll die Chance bekommen, mehr aus sich zu machen.
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