Da war es wieder, dieses Wort der Demut, von dem auch die Ratten zu Elvira gesprochen hatten. Dann schlagen die Kinder vor, sich jetzt regelmäßig zu treffen. Alle Kinder, auch die, welche von ihrem Vater Paco einmal im Überschwang der Jugend wahllos gezeugt worden waren, so wie Elvira selbst. Sie selbst hat die Kräfte der Familie, weil sie in Opa Leon, Lara, Pablo und Maria gute Lehrer hat. Viele andere Kinder der Familie haben diese Kräfte nur verschwindend gering. Dort hat es bisher keine Lehrer gegeben. Da muss man etwas tun.
Elvira weiß durch ihren Zusammenhalt mit den Kids im Untergrund von Berlin längst, welche Aufgabe die Familie hat. Es geht weiß Gott nicht darum, solche Diebstähle zu tolerieren oder gar gut zu heißen. Aber das sichert das Überleben der U-Bahn-Kids!!! Elvira weiß, dass die Familie alle Anstrengungen unternimmt, um die Kids in die Legalität zu holen, um ihnen Ausbildungsplätze und eine ordentliche Schule zu garantieren. Nur dann, wenn die Gesetzeslage das nicht zulässt, was sollst du dann tun? Du kannst diese Kinder doch nicht verhungern lassen. Es ist ein Akt der Menschlichkeit, sich für diese Kinder einzusetzen. Sie sind außerdem liebenswert und sie sind alle ihre Freunde. Alle. Elvira arbeitet im Kleinen daran, eine freundliche Welt zu schaffen. Andere tun das vielleicht im Großen, so wie Oma Katharina. Elvira weiß Bescheid. Naja, vieles von dem, was Oma Katharina macht, das weiß Elvira noch nicht. Sie ist ja noch jung.
Ja, und die Cousine Irina? Irina ist vielleicht das erste mal über sich selbst hinausgewachsen, mit dieser Rede. Irina hat die volle Unterstützung von Elvira, bei dem was sie gesagt hatte, und wie es sagte. Irina hatte das auf den Punkt gebracht. Elvira ist drei Jahre jünger als Irina, aber sie ist bereits seit Jahren in der Familie aktiv, und sie ist viel weiser, als ihr Alter das verrät. Cousine Irina ist in den Kräften der Familie noch ein Neuling, weil sie mit Opa Leon erst seit kurzem einen ständigen Lehrer hat, aber sie hatte wirklich überzeugend argumentiert.
Elvira hatte dazu innerlich zustimmend genickt. Ja, das muss wirklich in Angriff genommen werden. Die Familie muss über die Ozeane hinweg wieder zusammenwachsen.
Nur wenige Wochen findet dann die große und weiße Hochzeit von Opa Leon und Vera statt. Sie kommen alle nach Wittenberge, in diese kleine Stadt in Brandenburg, wo Opa Leon die große Fabrik der Mac Best Food Corporation befehligt. Nun nicht nur das. Auch die gesamte europäische Organisation all dieser vielen Firmen, die inzwischen der Familie von Leon gehören.
Nur wenige von Elviras Freunden haben die Kraft durch den Raum zu gehen, so wie Tante Lara. Die ist mit Oma Katharina direkt nach Wittenberge gesprungen. Elvira ist schon einmal in Opas neuem Haus gewesen. Sie hätte auch dort hin springen können. Sie fährt aber mit Mama und den kleinen Geschwistern in einem dieser Sonderbusse nach Wittenberge, die Oma Katharina für die Freunde aus Berlin organisiert hat. Nur ihr Stiefvater bleibt zu Hause. Der hat dringende Aufgaben.
Die Fahrt ist sehr lustig. Viele von Elviras Freunden wollen dabei sein, wenn Opa Leon seine Hochzeit feiert. Die Sonderbusse sind brechend voll, und und sie sind alle guter Laune. Schon im Bus fangen sie an zu feiern. Sie haben Luftballons und Konfetti mit. Viele sind bunt geschminkt und haben Phantasiekleider an, Clowns, Bänkelsänger, Bären, Affen oder Manga-Mädchen. Eine ganze Reihe von Musikgruppen fahren mit, und sie stimmen schon während der Busfahrt Lieder an. Opas Hochzeit ist ein fröhliches Ereignis.
Es ist wirklich eine wunderbare Hochzeit. Die ganze Stadt ist geschmückt und feiert. Mehr noch. Der ganze Landkreis und darüber hinaus. Es ist ein gigantisches Volksfest und Elvira spürt an diesem Tag, dass ihre Familie noch viel viel größer ist, als dieser Zweig der Familie in Berlin. Allein in dieser kleinen Stadt arbeiten mehr als dreiviertel der Menschen direkt oder indirekt für Opas Fabrik und Opa Leon hat es geschafft, sich überall Freunde zu machen.
Es ist ein fast überschäumendes Fest und eine unglaubliche Gemeinsamkeit und Herzlichkeit. Es ist schlecht zu schätzen, wie viele Menschen heute hier sind, aber die ganze Stadt ist voll mit Menschen. Die Massen ziehen sich bis vor die Tore der Stadt. Überall gibt es Events, Tische, Bänke, Buden, Gebratenes, Kuchen und Getränke. Es gibt Hundeschauen, Malwettbewerbe, Karussells, Ponyreiten, Motorradstunts, Stelzenmänner und Zauberer, und auch die Weisse Flotte ist gleich mit mehreren Ausflugsschiffen gekommen.
Elvira bleibt an diesem Tag bei Mama und ihren kleinen Geschwistern, damit die in dem Gewühl nicht verlorengehen. Sie erlebt, wie glückselig ihre kleinen Geschwister Eileen, Roger und Juan überall mitmachen. Opa Leon hat wirklich an alles gedacht. Na ja, eigentlich war es Oma Katharina gewesen. Sie hat dieses fröhliche Fest für Leon und Vera organisiert.
Es ist ein Fest für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und für Alte, Arme und Reiche. Niemand kommt zu kurz. Vielleicht das Schönste ist, dass das Wetter an diesem Tag mitspielt. Es ist ein wunderbar warmer Tag.
Es gibt auch eine Hochzeitskutsche, die von acht Pferden gezogen wird, mit der Opa Leon und Vera am frühen Abend nach Hause fahren, begleitet von ganzen Scharen von Fotografen, die in den nächsten Tagen die bunten Blätter mit diesen Bildern füllen wollen. Traumhochzeiten lassen sich immer gut verkaufen.
Die Familie ist wirklich in vielen Teilen der Welt vertreten. Nicht nur in Berlin und in Brandenburg. Auch ihre Geschwister aus Peru, Mexiko und Amerika sind gekommen.
Eins wird Elvira an diesem Tag bewusst. Sie wird anfangen noch mehr zu lernen. Sie wird von Oma, Opa und Lara lernen, in dieser großen Organisation eine Rolle zu übernehmen. Sie wird mit den Geschwistern in Übersee mehr Kontakt aufnehmen. Elvira weiß schon, dass Opa und Tante Chénoa Pläne haben, um das möglich zu machen. Elvira ist an diesem Tag stolz, ein Teil dieser Familie zu sein. Dass das ganze Fest natürlich auch eine Promotionveranstaltung ist, um den Ruf der Stiftung auf der Erfolgsleiter zu halten, ist Elvira schon bewusst. Das die Veranstaltung sehr teuer ist, das ist ihr auch klar, aber die Präsenz in allen bunten Blättern, im Fernsehen und im Internet ist einfach unbezahlbar.
Sie selbst wird sich zunächst weiter darauf konzentrieren, in ihrem Teil der Welt, dort in Berlin, alles zu tun, damit es den Freunden gut geht.
Elvira ist zu diesem Zeitpunkt gerademal zwölf. Da ist es naheliegend, sich zunächst einmal dem direkten Umfeld zu widmen, also an das, was einem am nächsten liegt.
Lara liest Elviras Gedanken. Sie nimmt in einem ruhigen Moment Elvira und Oma Katharina zur Seite und sie sagt. „So ist es richtig. Wir müssen versuchen in unserer kleinen Welt Ordnung zu halten. Oma Katharina tut das, ich tue das, Maria und Pablo tun das, und du hast eben gesehen, dass du das auch tun musst. Verlieren wir nie die großen Dinge aus dem Auge, aber kümmern wir uns auch um unsere kleine Welt.“
Ja, Lara hat recht. Es ist ein wunderbarer Tag. Die Heimfahrt würde auch wunderbar werden. Elvira freut sich schon wieder auf ihre Freunde, die mit ihr aus Berlin gekommen waren, und die jetzt irgendwo dort in diesem Trubel untergetaucht sind. Irgendwann heute Abend werden sie gemeinsam nach Hause fahren und noch im Bus fröhlich weiter feiern. Elvira ist stolz auf ihre Freunde.
Am nächsten Tag gestattet sie sich, bei Oma Katharina anzuklopfen. Sie sieht sie lange an. „Oma. Ich kann mich deutlich an eure Rede auf der Konferenz erinnern. Jetzt hast du für Opa Leon und Vera dieses wunderbare Fest organisiert. Sage mir einmal ehrlich, tut das nicht weh?“
Oma Katharina seufzt, und sie nimmt Elviras Hände. „Es ist für dich schwer vorstellbar, nicht? Also höre mir einmal zu. Ich liebe Leon nun schon seit fast fünfzig Jahren. Wir sind einen großen Teil unseres Lebensweges gemeinsam gegangen. Wir haben uns körperliche Freuden geschenkt, und glaube mir, Leon ist ein wunderbarer Liebhaber. Du bist noch jung. Du verstehst nur, das man durch eine solche Trennung Schmerz erleidet, und dass du dir das gerne erhalten willst, was für dich gut ist, aber sieh es doch einmal so. Leon war nicht nur mein Mann, er ist einer meiner engsten Freunde, nun, eigentlich sogar der Engste. Denke einmal an deine Freunde unten im Tunnel. Würdest du nicht auch alles für diese Freunde tun?“
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