Die deutschsprachige Musik schlägt ein, wie eine Bombe. In den folgenden Wochen hat die Gruppe richtig zu tun, und in den Tagen um Fasching 2055 füllen sie bereits die Konzertsäle in Köln, München, Stuttgart und Dortmund. Emmi ist 15, die anderen Mitglieder der Band sind zu diesem Zeitpunkt erst 16. Das ist ein Alter, wo du die Kids am einfachsten einfängst.
Von den ersten Gagen kann die Gruppe ihre Schulden bei Lara zurückbezahlen. Naja. Lara ist großzügig gewesen. Sie hat einen Freundschaftspreis gemacht, aber das gehört zu ihren Maximen, dass es professionelle Hilfe nicht zum Nulltarif gibt. Die Kids lernen das im Zentrum, das ein Startbrett nicht umsonst ist. Schließlich profitieren sie ganz gewaltig von Laras Hilfe. Nur Elvira, die hatte abgewunken. Das ist ihrZentrum. Sie will kein Geld. Sie hat hier alles, und Louis ist ihr Freund. Er würde für sie dasselbe tun.
Jeden Monat kommen jetzt neue Gelder rein. Die CD läuft überall im Rundfunk. Die Gema Gebühren fließen erst spärlich und dann immer kräftiger. Wie gut, dass die Gruppe in den letzten 12 Monaten ein ganzes Dutzend dieser Stücke eingeübt hat. Sie sind alle aus einem Guss und die Gruppe geht jetzt erneut ins Studio, um die erste große CD aufzunehmen.
Elvira hatte die Gruppe oft besucht. Sie hatte sie manchmal zu den Konzerten begleitet. Sie hatte mal Backstage gesessen, mal im Publikum. Sie war bei der Aufnahme des ersten Videos dabeigewesen und sie hatte gesummt. Sie hatte der Gruppe geholfen, sich selbst zu entdecken.
Oma Katharina hatte nach dem Erfolg genickt. “Louis hat die Zeitströmung erfasst”, hatte sie gesagt.
Es war nicht das Einzige, was Elvira in diesen fünfzehn Monaten beschäftigte, aber Elvira weiß, dass sie der Gruppe den entscheidenden Impuls gegeben hat. Es ist ihrErfolg. Ihrpersönlicher kleiner Erfolg. Jetzt spürt sie plötzlich, wie sie ihre Macht einsetzen kann. Sie hat für sich selbst einen Weg gefunden.
Elvira geht in dieser Zeit weiter wie bisher zur Schule. Sie trifft sich mit den Kids im Untergrund, und sie trifft sich mit ihren Geschwistern. Mal in Peru, mal bei Oma Katharina, mal bei Fred oder mal bei Paco in Mexiko.
Noch etwas anderes ist es, was Elvira in dieser Zeit beeindruckt. Durch Lara hat sie eine Menge Kontakte. Elvira kennt auch all diese uniformierten Ordner, die im Zentrum für Sicherheit sorgen und auch viele der Sozialarbeiter, die sich um die Sorgen der Kids kümmern. Sie weiß, dass viele der Kids aus dem Bunker regelmäßig zum Training gehen. Es gibt da mehrere Kickboxschulen. Sie war ein paar Mal mitgegangen und hatte sich das angeschaut. Ihr Ding ist das nicht.
Durch diesen Kontakt in den Kickboxschulen lernte Elvira aber neue Kids kennen. Einige kennt sie bereits flüchtig aus dem Musikzentrum. Sie weiß, dass die für den Sicherheitsdienst oder als Sozialarbeiter arbeiten, und sie spricht sie direkt an. Ja, das sei ein regelmäßiges Training. Wenn sie mehr wissen wolle, dann solle sie sich mal mit Lara, Katharina, Leon oder mit Rochen unterhalten. Rochen, hatte Elvira gefragt. „Wer ist denn das?“
Also redet Elvira mit Lara und mit Oma Katharina. „Wer ist Rochen“, will Elvira wissen.
Lara seufzt. „Es gibt Dinge, die haben wir dir bisher nicht erzählt. Du bist noch jung und du musst nicht alles wissen, was dich vielleicht belasten würde. Du kennst viele der Ordner hier im Zentrum und du kennst auch Roman, der hier die uniformierten Ordner anleitet, aber das ist nur die sichtbare Organisation. Das, was jeder sehen darf.“
Elvira hört erstaunt zu. „Du meinst, es gibt hinter dieser Organisation so etwas wie eine geheime Verbindung?“
Jetzt mischt sich Oma Katharina ein. „Elvira, hör jetzt einmal genau zu. Lara hat dir eben etwas angedeutet, was du nie, niemals ausplaudern darfst. Einige Mitglieder der Familie wissen das, aber sie reden darüber nicht. Haben wir uns verstanden?“
So kommt es, dass Elvira Rochen kennenlernt. Rochen ist klein und auf den ersten Blick unscheinbar, aber Rochen ist aufmerksam und er scheint mindestens über acht Augen zu verfügen. Sie sind überall. Selbst wenn dich Rochen fixiert, sieht er gleichzeitig alles, was im Raum um dich herum passiert. Rochen ist ein Phänomen. Er macht sich selbst „unsichtbar“, er will in der Menge untergehen und unerkannt bleiben, aber er sieht alles.
Rochen ist vielleicht zwanzig, zweiundzwanzig oder noch älter, Elvira kann das nicht einschätzen. Sie weiß nichts über Rochen aber sie sieht diese Aura dieses jungen Mannes. Sie erfasst das mit ihren Tentakeln, die sie von der Familie geerbt hat, und die durch Laras Ausbildung gewachsen sind. Sie kriecht in diesen jungen Mann hinein und sie staunt. Rochen ist nicht mit den Kräften ihrer Familie gesegnet, aber Rochen ist unglaublich. Elvira versenkt sich in diesen Jungen und sie beobachtet.
„Soso“, meint Rochen. „Du willst also mehr über uns erfahren?“ Als Elvira nickt, meint er. „Lara hat mir gesagt, dass du den Mund halten kannst. Kannst du das wirklich? Nein, nicht nur, wenn du direkt gefragt wirst, sondern wenn man dich ausfragt oder Nachts aus dem Schlaf zerrt?“
Elvira staunt. „So schlimm?“
Rochen lächelt, dann nimmt er Elvira mit zu Conni, einem der Mädchen, die im Zentrum verkehren. Elvira kennt Conni vom Sehen. Sonst weiß sie nichts über Conni. „Kümmere dich mal ein bisschen um Elvira“, meint Rochen. „Bisschen Basiswissen“, fügt er hinzu.
In den Folgewochen wird Elvira von Conni unter die Fittiche genommen. Sie sitzen im Zentrum. Plötzlich fragt Conni. „Das blonde Mädchen, was gerade an uns vorbeigegangen ist. Wie war die Farbe des Rocks? Was hatte sie für Schuhe an?“
Als das zum ersten mal passiert, da guckt Elvira nur blöde. Die Fragen kommen jetzt öfters, und Elvira beginnt, ihre Umwelt mit wacheren Augen wahrzunehmen. Sie schaltet auch ihr Gesumm ein. Sie benutzt jetzt die Kräfte, die sie von der Familie geerbt hat.
Dann wird Elvira in die U-Bahn und in die Stadt mitgenommen. Sie verfolgen wildfremde Passanten. Elvira beginnt auf bestimmte Zeichen zu achten. „Das da, das ist ein verdeckter Ermittler“, sagt Conni einmal. „Woher ich das weiß? Achte auf die Details. Sieh, wie er sich bewegt. Sieh zu, wie seine Augen tanzen oder absichtlich vorbeischauen, achte auf Handzeichen. Achte auf Ausbeulungen in den Taschen. Gibt es irgendwo ein Micro und ein Funkgerät? Lass uns den Mann verfolgen. Nein, nur kurz. Er wird das sonst merken.“
Später schickt sie Elvira hinter solchen Männern und Frauen her. „Versuche, ihnen unerkannt zu folgen. Brich deine Verfolgung sofort ab, wenn sie dich spüren. Ja spüren. Sie haben so eine Art inneres Auge. Einen Instinkt für Gefahr.“
Dann beginnt Conni Elvira zu zeigen, wie man sich auf der Straße unerkannt bewegt. Elvira staunt und lernt. „Versuche, mich zu verfolgen“, meint Conni irgendwann. Elvira staunt wieder. Sie hat Conni nach wenigen Minuten aus den Augen verloren. „Zeig mir das Geheimnis“, meint sie.
Elvira lernt. Das ist eine neue Welt. Langsam, ganz langsam begreift sie, dass es auf dieser Welt zwei Arten von Gesellschaften gibt. Eine öffentliche und eine Verdeckte.
Naja. Auch die Kids im Bunker sind eine Art geheime Organisation, aber das hier, das ist die organisierte Heimlichkeit. Eine ganz bewußt trainierte Unsichtbarkeit. Conni ist in diesen Dingen um vieles besser als die Kids im Bunker. Elvira lernt in diesen Monaten, die Augen selbst überall zu haben und alles zu sehen und zu registrieren.
„Das dient deiner Sicherheit“, sagt Conni. Sie muss es wissen. Sie ist wirklich gut.
Elvira fragt nie, wozu das alles gut ist. Sie lernt einfach von Conni.
Conni hätte diese Ausbildung jederzeit abbrechen können, und sie gibt geheime Berichte an Rochen, Lara und Oma Katharina. Oma Katharina nickt dazu. “Ich habe schon immer gewußt, das etwas besonderes in diesem Mädchen steckt. Überstürze nichts. Sei geduldig und behutsam. Verrate nichts, was Elvira jetzt nicht zu wissen braucht.“
Читать дальше