Kurzum: Es ist alles andere als gewiss, dass Amerika den Wettstreit gewinnen wird. Chinas Chancen, als dominierender Einfluss auf der Weltbühne hervorzugehen, sind genauso groß wie die Amerikas. Tatsächlich bereiten sich viele aufmerksame Anführer und Beobachter in strategisch sensiblen Ländern rund um den Globus auf eine Welt vor, in der China die Nummer 1 sein könnte.
Aber genauso wie es ein strategischer Fehler amerikanischer Denker war, einen Erfolg als unumgänglich vorauszusetzen, wäre es ein ebenso kolossaler strategischer Schnitzer Chinas, nun seinerseits einen Erfolg als garantiert zu erachten. Wenn es um die Größe und die Widerstandsfähigkeit seiner Gesellschaft geht, genießt China viele Vorteile, aber Chinas Führung wäre schlecht beraten, würde sie die grundsätzliche Stärke der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft unterschätzen. Nachdem die Finanzkrise 2008/2009 (die man treffender als „Finanzkrise im Westen“ bezeichnen sollte) die Volkswirtschaften des Westens erschütterte, ließ sich China unvernünftigerweise zu einem arroganten Auftreten hinreißen. Das kam das Land teuer zu stehen. Zum Zeitpunkt der Krise rund um die Bank Lehman Brothers wirkte es, als hinge das viel gerühmte amerikanische Finanzsystem in den Seilen. Chinas Führung war so unklug, sich abfällig über Amerika zu äußern. Zehn Jahre später hat sich Amerika wieder erholt. Wäre ich ein ranghoher Berater von Chinas Präsident Xi Jinping, würde ich Xi dringend ans Herz legen, Amerikas Stärken eher zu überschätzen als zu unterschätzen. Und würde man mich bitten, für Präsident Xi ein Memo über Amerikas große Stärken zu erstellen, würde dieses Schriftstück so aussehen:
Memo an den Genossen Xi Jinping: „Vorbereitung auf die große Auseinandersetzung mit Amerika“
1. Januar 2020
In 20 Jahren jährt sich zum 200. Mal der Jahrestag der erniedrigendsten Phase der chinesischen Geschichte. Wir, das chinesische Volk, wurden von den Briten gezwungen, als Bezahlung für unseren kostbaren Tee Opium zu akzeptieren. Wie Genosse Xi sagte: „Der Opiumkrieg von 1840 stürzte China in die Dunkelheit innerer Unruhen und ausländischer Aggression. Das vom Krieg geplagte Volk musste mitansehen, wie sein Heimatland zerrissen wurde, und es lebte in Armut und Verzweiflung.“ 14Wir waren schwach. Wir haben 100 Jahre der Erniedrigung erlitten, bis der Vorsitzende Mao bei der Gründungszeremonie für die Volksrepublik China erklärte: „Das chinesische Volk hat sich erhoben.“ 15
Heute sind wir stark. Keine Macht kann China erniedrigen. Wir befinden uns auf dem Weg zu einer nationalen Verjüngung. Bei der Eröffnung des 19. Parteitags der KPCh inspirierte Genosse Xi uns mit seiner Erinnerung: „Das Hauptthema dieses Parteitags lautet: Die ursprüngliche Zielvorstellung im Kopf behalten, die Mission beherzigen, das große Banner des Sozialismus chinesischer Prägung hochhalten, den entscheidenden Sieg der umfassenden Vollendung des Aufbaus einer Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand erringen, um große Siege des Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter kämpfen und ununterbrochen nach Verwirklichung des chinesischen Traums des großartigen Wiederauflebens der chinesischen Nation streben.“ 16
Dennoch sehen wir uns jetzt der größten Herausforderung auf dem Weg zu Chinas Verjüngung ausgesetzt. Wir hatten gehofft, dass das „schöne Land“ weiterschlafen würde, während China aufsteigt. [Anm. d. Übers.: Auf Mandarin heißt Amerika meiguo (
), wörtlich „schönes Land“.] Leider jedoch ist es mittlerweile erwacht. Wir müssen uns auf eine intensive Auseinandersetzung in den nächsten paar Jahrzehnten vorbereiten, bevor wir unser Ziel der nationalen Verjüngung erreichen.
Es wäre ein gewaltiger strategischer Fehler, die großen Stärken Amerikas zu unterschätzen. Das chinesische Volk fürchtet Chaos. Es ist die eine Kraft, die China in der Vergangenheit in die Knie gezwungen hat und großes Leid über das chinesische Volk brachte. Ganz offenkundig erleidet Amerika derzeit Chaos. Präsident Donald Trump war eine polarisierende und spaltende Persönlichkeit. Seit dem Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 war die amerikanische Gesellschaft niemals derart gespalten.
Chaos sollte ein Zeichen von Schwäche sein, doch für Amerika ist es ein Zeichen von Stärke. Das Chaos ist die Folge davon, dass die Menschen lautstark darüber streiten, welche Richtung Amerika einschlagen sollte. Dass die Menschen so laut streiten, liegt daran, dass sie glauben, das Land gehöre ihnen und nicht der Regierung. Dieses Besitzgefühl sorgt beim amerikanischen Volk für ein gewaltiges Maß an individueller Befähigung. Die chinesische Kultur schätzt gesellschaftliche Harmonie höher als die Befähigung des Einzelnen. In Amerikas Kultur ist es genau andersherum.
Dieses Gefühl der individuellen Befähigung hat es der amerikanischen Gesellschaft erlaubt, einige der mächtigsten Personen auf dem Planeten Erde hervorzubringen. In vielen Gesellschaften wird der Nagel, der hervorsteht, flach gehämmert. Ein chinesisches Sprichwort besagt: „Ein hoher Baum steht im Wind“ (shù dà zhāo fēng,
) – eine Person in herausragender Position muss sich darauf einstellen, Angriffen ausgesetzt zu sein. In Amerika wird der hohe Baum verehrt. Bei den Amerikanern, die am meisten bewundert und respektiert werden, handelt es sich deshalb um erfolgreiche Individuen wie Bill Gates von Microsoft, Steve Jobs von Apple oder Jeff Bezos von Amazon.
Selbst Mark Zuckerberg und Elon Musk werden weiterhin bewundert, obwohl doch ihre Unternehmen Facebook beziehungsweise Tesla viel Kritik einstecken müssen. Wenn es darum geht, starke Individuen hervorzubringen, verfügt keine Gesellschaft über ein dermaßen förderliches Klima wie Amerika.
Diese große Stärke Amerikas kann unsere Gesellschaft nicht kopieren. Dass sich China nach 100 Jahren wieder erhoben hat, liegt an einer alles überragenden Figur wie Mao Zedong. Amerikas Gesellschaft bringt viele Mao Zedongs hervor.
Amerikas zweiter großer strategischer Vorteil besteht darin, dass das Land Zugriff auf die klügsten Köpfe der Menschheit hat. Mit 1,4 Milliarden Menschen ist Chinas Bevölkerung viermal so groß wie Amerikas, theoretisch kann sich China also aus einem größeren Pool an Talenten bedienen als Amerika. Doch wie Lee Kuan Yew so klug anmerkte, verfügt Amerika über die Fähigkeit, die besten Talente aus der ganzen Welt anzulocken. Anders als die meisten Länder akzeptiert Amerika im Ausland geborene Menschen bereitwillig, wenn diese in Amerika erfolgreich sind. Das ist der Grund, warum in den vergangenen Jahren viele große Unternehmen Chefs hatten, die zwar amerikanische Staatsbürger waren, aber nicht in den USA geboren sind, beispielsweise Indra Nooyi von PepsiCo, Sundar Pichai von Google, Satya Nadella von Microsoft und Andy Grove von Intel. Es ist kein Nachteil, im Ausland geboren zu sein. Ganz anders die Situation in China: Keine größere chinesische Firma oder Institution wird von einer nicht in China geborenen Person geführt.
Amerikas dritter großer strategischer Vorteil sind seine starken Institutionen. Amerika glaubt an die Befähigung des Einzelnen und ermutigt dazu, aber es verlässt sich nicht auf starke individuelle Anführer, sondern darauf, dass starke Institutionen die Gesellschaft schützen. Es war wirklich brillant von den Gründern der amerikanischen Republik, eine Verfassung mit dem System von Checks and Balances zu entwerfen. Präsident und Kongress werden demokratisch gewählt und besitzen viel Macht, aber ihr Handeln wird von anderen Institutionen beobachtet, etwa den freiesten Medien der Welt und dem Obersten Gerichtshof. Als der Oberste Gerichtshof erklärte, das Einreiseverbot, das Präsident Donald Trump gegen Muslime verhängte, verstoße gegen die Verfassung, konnte Trump nicht mithilfe des Militärs das Oberste Gericht stürzen (wie es viele Präsidenten in vielen anderen Ländern getan haben). In Amerika ist die Rechtsstaatlichkeit stärker als die jeweils amtierende Regierung.
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