Ansprache von allen Geschlechtern und mehreren Berufsgruppen
Die Herausforderung zu bewältigen, einerseits gendergerecht zu schreiben und damit allerdings keine allzu großen grammatikalischen Probleme aufzuwerfen, ist mir nicht gelungen. Ich habe mich daher sprachlich für die männliche Form entschieden und bitte alle Lesenden eines anderen Geschlechts, sich auch angesprochen zu fühlen. Wo es möglich war, habe ich neutrale Formulierungen wie z. B. Lernende oder Lehrkräfte verwendet. Die dadurch entstehenden Wechsel bitte ich als anregende sprachliche Musterunterbrechung zu verstehen.
Dieses Buch richtet sich an unterschiedliche Berufsgruppen: Therapeuten, Berater und Coachs, aber auch Lehrkräfte, Fachkräfte in der Schulsozialarbeit u. v. m. Aus Gründen der Lesbarkeit nenne ich immer die Berater und bitte die Angehörigen der anderen Berufsgruppen, sich ebenfalls angesprochen zu fühlen.
1Grundlagen des Prüfungs- und Auftrittscoachings
1.1Rolle und Selbstverständnis
Die Anliegen und Themen von Klienten, um die es in diesem Buch geht, beziehen sich fast immer auf Kontexte mit einer klaren Unterscheidung und Vorstellung von richtig und falsch. In Klausuren in der Schule werden Aufgaben als richtig oder falsch bewertet, oder ein Referat im Seminar eines Studiums fällt mehr oder weniger zur Zufriedenheit der Lehrenden aus. Auch wenn keine äußere Bewertung stattfindet, erfolgt im Kopf der Klienten oft trotzdem eine Bewertung nach richtig und falsch. Zudem ist die Freiheit an Schulen, Hochschulen, Universitäten und auch im beruflichen Kontext mehr oder weniger eingeschränkt. Die Schulpflicht zwingt Kinder in die Schule, und wenn sie sich später für eine Ausbildung, ein Studium oder einen Beruf entscheiden, unterliegen sie bestimmten Regeln, die sie nicht selbst aufgestellt haben.
Wenn sich Lernende wegen ihrer Schwierigkeiten Unterstützung suchen – z. B. wegen einer nicht bestandenen Prüfung –, tun sie das einerseits freiwillig, andererseits bestehen diese Schwierigkeiten meist erst vor dem Hintergrund des Bewertungskontextes der jeweiligen Institution, von dem aus die Unterstützung als Notwendigkeit empfunden wird. Der Anlass für die Anliegen der Klienten wird oft erst mit den jeweiligen kontextuellen Regeln und Bewertungsmaßstäben nachvollziehbar. Fast ausschließlich ist der Anlass das mehr oder minder ausgeprägte Scheitern an wie auch immer gearteten Lern- und Leistungsherausforderungen oder die Unzufriedenheit mit bestimmten Ergebnissen. Das, was jemand tut, wie jemand ist, was jemand kann, entspricht innerhalb eines bestimmten Bewertungsschemas nicht den definierten Anforderungen. Analog dazu geht es den meisten Klienten mehr oder minder um die Frage, wie sie diesen Anforderungen entsprechen oder wie sie damit umgehen können. Das Anliegen der Klienten steht damit oft in direkter Korrespondenz zum Bewertungskontext und den darin geltenden Regeln.
Bei der Arbeit mit Menschen, die in Lern- und Leistungskontexten Schwierigkeiten erleben, kommt man nicht umhin, sich gegenüber diesen Bewertungskategorien und den gesetzten Regeln und Grenzen zu positionieren. Dies führt zunächst zu der Frage: Wer bin ich? Was soll meine Rolle sein?
Bin ich der gute Mentor, der Mut zuspricht? Der Kontrolleur, der den Fortschritt überwacht? Der Menschenoptimierer? Der verlängerte Arm der jeweiligen Bildungsinstitution? Der weise Therapeut für Wunden und Verletzungen? Der allwissende Experte für perfekte Arbeitsorganisation und Lerntechnik? Der abstinent spiegelnde Supervisor?
Mit dem Begriff Prüfungs coaching ist eine Richtung bereits gebahnt. Jedoch bedeutet dies nicht, dass damit auch zwangsläufig die Rolle eines Coaches verbunden ist. Der Begriff Coaching als Bezeichnung für das Unterstützungsangebot ist zieldienlich gewählt. Er steht gewissermaßen auf dem Türschild und soll Anschlussfähigkeit zu den (Bewertungs-)Kontexten anbieten. Im Alltagsverständnis wird Coaching assoziiert mit Training, Besserwerden, Optimieren, Neues Lernen und Einfinden in neue Rollen. Weil er zunächst kongruent mit den inhärenten Bewertungsschemata ist, passt er auch zu dem Problem-Erleben der Menschen in diesen Kontexten. Der Coaching-Begriff ist ein Beziehungsangebot, er erleichtert den Beziehungsaufbau mit dem Kontext der Person. Hingegen erleichtert er nicht unbedingt den Beziehungsaufbau mit der Person selbst, denn die Personen fühlen sich in den Bildungskontexten mit ihrer Individualität, ihren Bedürfnissen und ihren Talenten oft nicht ausreichend wahrgenommen. Prüfungscoaching ist immer in der Gefahr, sich selbst vor den Karren der gewinnmaximierenden Selbstoptimierung zu spannen oder gespannt zu werden und näher an die Ziele der Institutionen als an die der Menschen zu rücken.
Die Frage nach der Rolle ist mit dem Titel Prüfungs- und Auftrittscoaching also noch nicht beantwortet, und es ist unbedingt zu empfehlen, sich auf keine Antwort festzulegen oder festlegen zu lassen. Zu vielseitig und wechselhaft können die Themen und Prozesse sein, die Menschen in ein Prüfungscoaching einbringen. Entsprechend vielseitig sind auch die Rollen, die wir einnehmen können.
1.2Drei Perspektiven und Rollen des Prüfungscoachings
Der Systematik vom Prüfungscoaching liegt ein mehrdimensionales, zirkuläres Modell von Schwierigkeiten in Lern- und Leistungskontexten zugrunde. Entstanden ist dieses Modell zunächst im Rahmen eines Beratungsangebots für Studierende der Universität Kassel, die Schwierigkeiten im Studium haben. Im Rahmen meiner Selbstständigkeit als Therapeut und Coach habe ich es weiterentwickelt.
Obwohl es sich bei dem Angebot an der Universität Kassel um eine »sortenreine« Beratung zu ganz spezifischen Anliegen handelt, reicht das Themenspektrum der Klienten von konkreten Lernschwierigkeiten über Selbstwertzweifel, Unsicherheit und Sinnkrisen bis hin zu biografischen Familien- und Loyalitätsthemen. Unter dem Deckmantel »Prüfungsangst« verbirgt sich oft ein komplexes Gewebe verschiedenster Themen, die weit über den Schulhof oder den Campus hinausreichen. Die eine Herausforderung besteht darin, methodisch auf der ganzen Klaviatur von Lerntechnik und Arbeitsverhalten über Mental-Training wie im Leistungssport bis zur Reflexion von tradierten Glaubenssätzen sowie Beziehungs- und Familienthemen zu spielen. Eine weitere Herausforderung ist die Geschwindigkeit: Prüfungs- und Auftrittscoaching (PAC) muss häufig extrem schnell wirksam sein. Nicht selten heißt es: heute Coaching, morgen Prüfung. Auch eine einzige Sitzung am letzten Tag vor einer Prüfung sollte nützlich sein.
Nach etwa zwei Jahren Erfahrung mit diesen spezifischen Anliegen beobachtete ich, dass sich Themenkonstellationen bei den Klienten und meine Prozessschritte offenbar wiederholten und einem bestimmten Muster folgten. Bei der Durchsicht Hunderter Beratungsprotokolle identifizierte ich drei zentrale Themenbereiche, die sich getrennt und in Wechselwirkung zueinander betrachten lassen. Diese drei Bereiche bilden ein Dreieck ( Abb. 1).
Bei meinem Versuch, die spezifische Dynamik zu verstehen, standen nicht wissenschaftliche Gütekriterien im Vordergrund. Mir ging es darum, ein Prozessmodell zu entwickeln, mit dem sich Beratungs- und Therapieprozesse initiieren lassen.
Die bestehenden theoretischen, wissenschaftlichen Erklärungsmodelle (Fehm u. Fydrich 2011) zum Phänomen Prüfungsangst beruhen meist auf kognitionspsychologischen oder tiefenpsychologischen bzw. psychoanalytischen Ansätzen. Prüfungsangst und aufschiebendes Verhalten werden von vornherein als Problem und Störung definiert und wenig in Wechselwirkung zu anderen Verhaltens- und Erlebensweisen oder in biografischen oder sozialen Zusammenhängen gesehen.
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