Erstes Kapitel
Agora
Aber wie war es eigentlich zu diesem Gespräch gekommen? Die gesamte Misere nahm an einem Dienstagmorgen ihren Lauf und hätte wohl kaum harmloser oder banaler beginnen können. „Odysseus, Schatz, könntest du auf dem Rückweg Milch und Brot mitbringen? Es geht zur Neige!“ – „Sicherlich, Penny, für meine liebe Frau tue ich alles.“ Der König von Ithaka stand auf, um sich die Schuhe anzuziehen. Dabei fiel sein Blick auf die Frühausgabe der Korinther Zeitung. „Diese Aktienkurse treiben ja jeden vernünftigen Menschen zur Verzweiflung“, knurrte er, belustigt über die Einfältigkeit mancher Landsleute. „Hast du übrigens unseren Sohn heute schon gesehen?“, fragte er Penelope, bevor er zur Tür hinaustrat. Diese schüttelte nur den Kopf. „Götter, wie schön sie ist. Das wundervollste Mädchen, das ich je treffen konnte“, dachte Odysseus, wie er seinen Hund Argos an der Leine nahm und Richtung Agora, dem Marktplatz, spazierte. Das Leben im Jenseits ließ sich gut ertragen. Bis zu diesem Tag.
Auf dem Markt angelangt, jagte Argos gleich ein paar Hühnern hinterher. Laut bellend versuchte er, auch den listigen Odysseus für diese Tiere zu begeistern. „Argos, sitz und sei brav. Penny hat gesagt, dass wir Milch und Brot beschaffen sollen und keine Hühner ärgern.“
Traurig blickte der Hund zu seinem Herrn auf. Dann legte er sich flach auf den Boden und hielt sich die Pfoten über den Kopf. Odysseus verdrehte entnervt die Augen. „Also gut, aber nur für zehn Minuten!“ Der Hund machte einen freudigen Luftsprung, danach verschwand er kläffend vor Freude in dem Haufen von Federvieh. Jedoch sollte es länger dauern, bis der Listenreiche wieder zurückkam. Das Brot unter den Arm geklemmt, stand er in einer langen Schlange, die sich vor dem Milchladen gebildet hatte. „Zweitausendvierhundertfünfzig Drachmen für einen Viertelliter, für das Geld bekomme ich in Makedonien eine halbe Kuh!“, empörte sich eine Stimme, die Odysseus durchaus bekannt war. „Tut mir außerordentlich leid, Pat, aber so sind die Preise“, erwiderte Orestes, während der andere ungeduldig mit den Fingerkuppen auf die Theke trommelte. „Auch, wenn ich mich auf den Kopf stelle, würde König Minos die Milchsteuer nicht verringern, also willst du die verdammte Kanne kaufen, oder nicht?“ Wütend schleuderte Patroklos Orestes das verlangte Geld hin. „Eine haushohe Überteuerung ist das. Dieser Wucher allein grenzt ja schon an Betrug!“ Dann war er weg. Odysseus war als Nächster dran und – sagen wir mal so – ihm behagte der Preis noch weniger als dem jungen Mann vor ihm. „Orestes, willst du mich in die Insolvenz treiben?“ Der listige König von Ithaka sah den jungen dunkelhaarigen Griechen herausfordernd an. „Ich sicherlich nicht, aber König Minos wäre wohl kaum besonders bestürzt darüber.“ – „Was, ich dachte immer, als Richter in der Unterwelt macht der nur so juristischen Kram, seit wann bitteschön sind denn auch die Finanzen unter seiner Kontrolle?“ Odysseus blickte finster um sich. Das waren wirklich heitere Zukunftsaussichten. „Nun, Aietes und er berauben und erpressen mit ihren Sturmtruppen nach Lust und Laune die Leute. Sie haben bereits eine Menge Bürokraten unter ihrer Gewalt. Das geht schon mindestens ein paar Monate so. Sonst noch Fragen? Falls nicht, würde ich gerne weiter meine Kundschaft bedienen. Wiedersehen!“ Nun war Odysseus ja nicht gerade auf den Kopf gefallen, sein Verstand war der beste im antiken Griechenland, und trotzdem starrte er nun völlig perplex und ratlos auf das Schild, das frische Mittelmeerfrüchte bewarb. Vielleicht, hatten die Zitronen und Granatäpfel, wenn er sie nur lange genug anschaute, eine Lösung für ihn parat. Ja, König Minos war schon ein Problem an sich. Und obwohl der einstige Richter und König der Insel Kreta brutal, korrupt und gierig war, stand er seinem eigenen Schwager dann doch noch um etwas nach.
Kopfschüttelnd ging der Listenreiche auf und ab. Sein Hund Argos war in der Zwischenzeit auf Telemachos gestoßen. Er war der Sohn von Penelope und Odysseus und der Einzige mit einem vergnügten Gesichtsausdruck – denn er war frisch verliebt. Verträumt sprang er über Kisten und zwischen Ständen hindurch, als ob es sich um eine hell erleuchtete Waldlichtung handelte und nicht um eine dicht gedrängte Menschenmenge. „Jetzt ist er völlig verrückt geworden“, stellte Patroklos fest. Bedrückt sah er seinem Freund nach, während dieser laut lachend über die Agora rannte. „Ich hab’s ja schon immer gesagt, die Liebe macht irre!“, zischte jemand hinter ihm. Pat schaute erstaunt zurück. Es war sein älterer Cousin und Lehrmeister, der große Achilles, der ihm in diesem Moment seine Hand um die Schulter legte. „Für Telemachos hoffe ich, dass es ein gutes Ende nimmt. Er hat es wirklich verdient.“ – „Jaaa, und ich verdiene ein Bruttogehalt, das es mir erlaubt, auch weiter Milch zu kaufen. Dieser Minos hat sie ja wohl nicht mehr alle!“, sagte Achill gedehnt und fügte spitz hinzu: „Für den Fall, dass er gedenkt, auch noch die Getreidepreise in die Höhe zu jagen, sehe ich mich gezwungen, uns zukünftig nur von Wasser und Algen zu ernähren!“ Langsam schritten sie über den Platz, auf dem weitere Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände feilgeboten wurden. „Nun, irgendwann wird er selbst auf den Produkten sitzen bleiben. Wenn es kein neues Angebot gibt, bleibt die Nachfrage aus. Damit würde Minos einfach seine eigenen Pläne durchkreuzen“, stellte Patroklos klug fest. „Ach, Pat, bis dahin sind wir alle elendig an einer Hungersnot verreckt.“ Darauf wusste auch sein Schüler keine Antwort.
Am Abend war Odysseus völlig fertig. Seinen Hund an der einen, den spärlichen Einkauf in der anderen Hand und seinen verknallten Sohn im Schlepptau, machte er sich auf den Weg nach Hause. „Vater, wie hast du Mutter eigentlich gesagt, dass du sie liebst?“, sagte Telemachos plötzlich. Der Angesprochene blieb abrupt stehen. „Wieso fragst du?“ – „Nur reines Interesse.“ Sein Vater warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Wer ist denn die Glückliche?“ Doch die Antwort blieb aus.
Penelope umarmte zuerst Telemachos und dann ihren Ehemann. Odysseus sog sofort genüsslich den blumigen Duft ihres schwarzen Haars ein. Seine Frau schmiegte sich an ihn. Sie kicherte leise. „Du könntest dich wirklich wieder einmal rasieren.“ – „Ach so, könnte ich das?“ Er fuhr mit einer Hand durch ihre dichten Locken und legte seine Lippen an ihr Schlüsselbein. Mit einem Ruck zog er sie noch dichter an sich. „Was würde ich nur ohne dich tun, Penny?“, murmelte er leise. „Vielleicht selbst das Holz hacken und das Unkraut jäten.“ Er spürte ihre weichen Hände auf seinen Schultern ruhen. „Komm her!“ Aus seiner Stimme war eindeutiges Verlangen zu hören. Odysseus hob sie kurzerhand hoch, einen Arm unter ihren Kniekehlen, den anderen um ihren Rücken geschlungen. Zu zweit wirbelten sie durch das gesamte Vorhaus in Richtung der kleinen Küche. Dort angekommen, legte er Penelope über den Tisch, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie leidenschaftlich. Der Geschmack ihrer Lippen ließ ihn jedes Mal Zeit und Raum vergessen. Ihr Mann positionierte sich zwischen ihren Schenkeln und war gerade im Begriff, ihr Kleid zu öffnen, als es plötzlich an der Tür klopfte. Einmal, dann nochmals etwas fordernder. „Erwartest du heute noch Besuch?“, fragte Penelope etwas verwundert. „Ich nicht. Du etwa, Penny?“
Doch dieser späte Besuch, der es nicht für nötig gehalten hatte zu warten, ob sich vor dem dritten Klopfen jemand um ihn scherte, war einfach eingetreten. Jetzt stand er mitten in der Küche. „Oh, Verzeihung, störe ich bei irgendetwas Wichtigem?“, fragte Achilles, amüsiert über diese leicht peinliche Situation. „Bei Hermes und Pallas Athena, schon mal was von einer Hausordnung gehört? Was fällt dir ein, hier hereinzuschneien, Pelide?“ Der Listenreiche warf dem Unverwundbaren einen vernichtenden Blick zu, denn schließlich hatte der Sohn der Göttin Thetis ihn gerade um ein paar vergnügte Stunden mit seiner Frau gebracht. „Schämst du dich gar nicht?“ Noch während er die Frage stellte, merkte er, wie überflüssig sie war. Achilles hatte sich noch nie im Leben für irgendetwas geschämt. Der Blonde musterte kurz die leicht bekleidete Penelope, dann wandte er sich an ihren Ehemann. „Patroklos ist weg! Ist er bei euch gewesen?“ Achill wirkte zornig und etwas frustriert. „Nein, brauchst du ihn für etwas Besonders?“, flüsterte Penny. „Brauchen?“ Achill wiederholte dieses Wort, als kenne er dessen Bedeutung nicht. „Nein, ich nicht, aber es ist doch immer gut zu wissen, wo die Verwandtschaft sich rumtreibt, ob man sie braucht oder nicht.“ Diese Anmerkung erschien logisch. Odysseus gab resigniert die Hoffnung auf eine angenehme Nacht auf, denn ihm dämmerte, dass Achill ihn auffordern würde, nach Patroklos zu suchen. Die Sorgen konnte der Blondschopf nicht ganz unterdrücken, dafür lag ihm zu viel an dem Kleinen. Dieser Tatsache war sich auch Odysseus bewusst. Er küsste seine Frau zum Abschied und versprach, bald wieder zurück zu sein. Penelope ordnete ihr Gewand und begleitete ihren Mann noch zur Haustüre. Und schon war er mit Achilles auf der Suche nach dem jungen Burschen.
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